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Meinung: Neue Runde, neues Glück

Neuwahlen sind verpönt. Dabei könnten sie der Weg zu klaren Mehrheiten sein

Viele denken daran, keiner spricht es aus: Warum nicht Neuwahlen? Die Einwände liegen auf der Hand. Neuwahlen schaffen möglicherweise auch keine Klarheit, das Gemurkse ginge weiter. Neuwahlen dürfen erst erwogen werden, wenn alle anderen Versuche, eine Mehrheit zu bilden, gescheitert sind. Neuwahlen produzieren keine neuen Politiker, allenfalls neue Proporze. Neuwahlen zu organisieren, dauert lange. Deutschland muss endlich wieder regiert werden. Und schließlich: Der Ruf nach Neuwahlen käme dem Eingeständnis eines Scheiterns gleich. Die Politiker hätten sich lächerlich gemacht.

Alle diese Einwände wiegen schwer. Hatten wir nicht gerade erst vorgezogene Neuwahlen? Wie oft soll das Spiel wiederholt werden? Außerdem stehen Neuwahlen nicht an. Angela Merkel will sie nicht, weil sie trotz des schlechten Wahlergebnisses Kanzlerin werden kann. Die SPD will sie nicht, weil ihr der Frontmann fehlt. Und alles kann ja auch glimpflich enden. Irgendwie zieht die SPD sich aus dem Sumpf. Es gibt ein paar neue Personalien. Eine große Koalition wird gebildet, ein Programm beschlossen, Merkel zur Kanzlerin gewählt. Warum dann über Neuwahlen räsonieren?

Weil sie eine Option sind. Natürlich können sich Politiker zusammenraufen und etwas bilden, was sie euphemistisch „Regierung“ nennen. Aber jede Regierung braucht ein Mindestmaß an inhaltlicher Vision und gestalterischem Raum. Selbst der Bundespräsident sagt: Dieses Land steckt in einer tiefen Krise. Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit riesig, Wirtschaftswachstum minimal, demographisch abgeschlagen, Sozialsysteme marode. Gemessen an den Problemen indes lassen einen die Resthoffnungen, die mit der real zu erwartenden großen Koalition verknüpft sind, verzweifeln.

Ein bisschen sparen, ein bisschen Steuern erhöhen, ein bisschen in die Forschung investieren, eine Föderalismusreform verabschieden: Das soll’s gewesen sein? Wir werden geführt von einer angeschlagenen Kanzlerin. Ehrgeizige Parteifreunde umringen sie, von denen mancher gern selbst auf ihrem Stuhl säße. Den Juniorpart übernimmt eine SPD, die den Kompass verloren hat. Was ist ihr wichtiger, die Agenda 2010 oder der Klassenkampf? Natürlich lässt sich diese Truppe schönreden. Das nennt man Zweckoptimismus. Manchmal ist Zweckoptimismus das Gegenteil von Realismus.

Neuwahlen sind verpönt. Keiner kann garantieren, dass sie eines der jetzigen Probleme lösen. Dennoch ist es sinnvoll, sie aus der Tabuzone herauszuholen. Können die Verhältnisse unklarer werden? Kaum. Bieten stattdessen Neuwahlen den beiden Volksparteien die Gelegenheit, ihre Programmatik zu überdenken und sich selbst neu aufzustellen? Ja. Die Parteien bekämen eine zweite Chance – und der Wähler auch. Bleibt sie ungenutzt, sind wir noch desillusionierter und haben noch mehr Zeit vergeudet. Das wäre zwar schade, aber nicht viel ärger als der Status quo.

Doch auch das Gegenteil kann geschehen: klare Mehrheiten, einfache Regierungsbildung, neue Perspektive. Demoskopen sind skeptisch? Den trauen wir nicht mehr. Am 18. September hat das Volk viele Politiker in eine Schockstarre versetzt. Vielleicht kann nur das Volk sie wieder daraus befreien.

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