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Meinung: Neues Deutschland

In vielen Städten und Gemeinden wächst das Bewusstsein für die Einheit

Es gibt, demnächst, im Oktober, seit 20 Jahren wieder ein staatliches Gehäuse für alle Deutschen. Doch in welcher Verfassung sich die Gesellschaft befindet, die es ausfüllen und tragen soll, liegt nach wie vor im Ungewissen. Ist sie immer noch ost-westlich gespalten? Gibt es das Bewusstsein, einem gemeinsamen Land anzugehören, und wie weit reicht es? Gibt es eine wenigstens annähernd vergleichbare Sicht der Vergangenheit, der Wende 1989/90, aber auch und gerade der zwei Jahrzehnte seither?

Immer wieder wird die Öffentlichkeit aufgeschreckt von Beispielen abgrundtiefer historischer Ahnungslosigkeit oder staunenswerten Desinteresses – Jugendliche halten Erich Honecker für einen westdeutschen Parteiführer, 60 Prozent der Bürger aus dem Westen haben noch nie einen Fuß in die neuen Länder gesetzt. Auch dass die Geschichtskenntnisse bei den meisten jungen Leuten beklagenswert gering sind und zwei Drittel der Deutschen noch nie in, sagen wir, Baden waren, ändert nichts an dem Befund. Denn er wirft Zweifel auf, die ein Politikum darstellen: Ist die deutsche Einheit wirklich bis nach Aachen beziehungsweise Cottbus gekommen?

Aber die Einheit bewegt sich doch. Im Rücken aller Klagen hat sich etwas verändert. Wofür steht zum Beispiel die Schar derer, die in der vergangenen Woche eine Geschichtsmesse in der vergangenen Woche in Suhl besuchte? Bald 200 Referenten, Museumsleiter, Wissenschaftler, Stadt- und Landkreisdezernenten wuselten zwei Tage umeinander herum, die Mehrzahl so jung, dass die Wende für sie kaum noch Erlebnischarakter hat. Entstanden ist da eine Schicht von Aktiven und Institutionen, die bewahrt und verbreitet, was in und mit Deutschland geschehen ist.

Und das, vor allem, ganz unten. Denn den Anstoß für die Messe bildete ein Schreiben, mit dem sich die Bundesstiftung Aufarbeitung vor zwei Jahren an Städte und Kreise wandte und ein unerwartet starkes Echo fand. Nun berichtet zum Beispiel eine Stadt in Thüringen davon, wie sie am 9. November 2009 vor Ort ihre Wende-Geschichte darstellte, sozusagen im kommunalen Handbetrieb. Volkshochschulen und bürgerschaftliche Initiativen finden Tausende von Interessenten für ihre Veranstaltungen. Selbst im tiefsten Südwesten hat ein 1989-Ungarnflüchtling ein Stadt- und Freiheitsmuseum aufgebaut, führt selbst verfasste Theaterstücke auf und erntet erstaunlichen Zulauf.

Natürlich bleibt die Frage: Wie tief geht das? Wie sehr hängt es ab von der Maschinerie der politischen Bildung und den Mitteln, die für sie aufgewendet werden? Aber hinter ihrem gelegentlich etwas mühsamen Arbeiten mit allen seinen „Projekten“ und „Lernorten“ wächst so etwas wie ein Bewusstsein für das neue, aus der Teilung und den Wende-Wirren herangereifte Deutschland. Getragen von dem „kleinen großen Engagement“ vieler – so Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung –, im Osten wie im Westen, hat die Einheit wohl tatsächlich im zusammengefügten Deutschland Wurzeln geschlagen.

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