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Alles steht, geparkt wie mit laufendem Motor: Blick in die Silbersteinstraße in Berlin-Neukölln

© Paul Zinken/picture alliance-dpa

Öffentlicher Raum: Bringt die Stadt wieder in Bewegung!

Bürgersteige von Biertischen verstellt, Straßen als privater Parkraum - man hat sich dran gewöhnt. Sollte man aber nicht.

Der klassische Feiertagsspaziergang muss nicht nur der Verdauung von Weihnachtsgänsen und -kartoffelsalaten dienen, er kann auch klüger machen. Erst recht in der Zeit der ausgedehnteren Feiertage zwischen Weihnachten und Neujahr, für die das Deutsche die schöne ortlose Ortsbezeichnung „Zwischen den Jahren“ hat.

Besichtigt werden konnte: Berlin wächst und wächst. Der Himmel drüber ist nicht mehr so offen, es wachsen Kräne und Mauern hinein. Die Metropole der vielen schönen Brachen, ein internationales Alleinstellungsmerkmal Berlins, wird es bald nicht mehr geben, sie schrumpft rasch. Und beim Spaziergang zwischen den Jahren kann einem schon mal der Gedanke kommen, ob der Knatsch um die Berufung von Andrej Holm zum Staatssekretär für Wohnen im neuen Senat nicht auch damit zu tun hat, dass da einer wesentlich über die neue Stadt mitbestimmen soll, der ziemlich radikal danach fragt, wem sie gehört und gehören soll. Dass für immer mehr Menschen, die in Berlin leben, Wohnraum entstehen muss, ist sicher „alternativlos“. Dafür, wie er entsteht, und was er kostet, dafür gibt es sicher mehr als eine Möglichkeit.

Globaler Jahrhundert-Coup der Autoindustrie

Um auf Alternativen im Stadtraum zu kommen, braucht eine aber gar nicht einmal den Hals zu recken. Es genügt, auf Augenhöhe die Straßen zu entziffern. Auch die werden ja nicht freier, im Gegenteil: Das Parken in zweiter, ja dritter Reihe, erreicht in Berlin inzwischen römisches Niveau – bei ähnlich gelassener Reaktion der zuständigen Ordnungsämter. Dass die Zahl der Autozulassungen in den vergangenen Jahren nicht nur absolut mit der Zahl der Neuberlinerinnen stieg, sondern auch relativ, ist ein noch junger Grund für das Gedränge. Der tiefere Grund ist jahrzehnte-, vielleicht ein gutes Jahrhundert alt.

Im Laufe des automobilen 20. Jahrhunderts haben wir uns daran gewöhnt – also ziemlich viele von uns –, dass Straßen, das womöglich öffentlichste Stück Boden überhaupt, zu mehr als der Hälfte in Parkraum umgewandelt wurden, also in Privatnutzung überführt wurde, meist gebührenfrei. Unter dem Stichwort „Erreichbarkeit“ heißt es im schönen „Lexikon der Raumphilosophie“ – ja, auch das gibt es –, es seien „nicht die Räume an sich, sondern die Handlungen der Akteure, die Erreichbarkeiten verwirklichen.“
Die haben die Straße, die dafür gemacht ist, Bewegung möglich zu machen und Verbindung zu schaffen, längst zweckentfremdet und stillgelegt. Auch auf den scheinbar fürs Fahren und Gehen freigebliebenen Streifchen läuft es bestenfalls zähflüssig, oft läuft gar nichts mehr.

Der öffentliche Raum, die Polis, galt im antiken Griechenland, wo das Konzept erdacht wurde, als Raum der Freiheit. Was würden die alten Griechen wohl über unseren öffentlichen Raum denken? Man kann es als globalen Jahrhundert-Coup der Autoindustrie ansehen, dass die Frage, wem die Straße gehört, nicht einmal mehr gestellt wird, so unerhört scheint sie zu sein. Wie es selbstverständlich erscheint, dass selbst Oversize-Bürgersteige (Bürger?) ganzjährig und fast restlos privat mit Biertischen möbliert werden, dass jeder Mensch, der ins Flugzeug will, zu einer Runde durch den Duty-Free-Shop gezwungen wird.

200 Jahre Fahrrad: Freie Fahrt den Gigalinern

Seltsam, dass Raum uns immer noch so unhinterfragbar erscheint, als immer schon da, als „Natur“, obwohl von Natur nach rund 200 Jahren menschengemachter Industrialisierung so viel nun nicht mehr übrig ist. Raum sei, heißt es wieder im Lexikon der Raumphilosophie, „nicht gleichbedeutend mit Materie oder Natur, denen dann Geist beziehungsweise Kultur als vermeintlich Unräumliches gegenübersteht“.

Oder auch: Der Raum, in dem wir leben, haben wir geschaffen, den hat wer gemacht, sich vielleicht angeeignet. Dann kann er aber auch umgebaut, aufgeräumt und zurückgegeben werden. Dass der Verkehrsminister zum Jahresbeginn 25-Meter-Lkw-Sauriern, den „Gigalinern“, die Straße freigegeben hat, ist da vielleicht nicht das hoffnungsvollste Zeichen fürs neue Jahr. Wo werden die allein Parkplatz suchen – und finden!

Dabei ist das noch neue Jahr das Jubiläumsjahr des Fahrrads. Vor 200 Jahren, im Sommer 1817, legte der Freiherr von Drais – auf den Adelstitel verzichtete der Demokrat später – zum ersten Mal die sieben Kilometer von seiner Mannheimer Wohnung nach Schwetzingen auf dem Laufrad zurück, das er erfunden hatte. Und nicht nur die österreichischen Gegner der Dobrindtschen Maut werden hoffen, dass dieses Jahr eher das des Bürgers Karl Drais wird als das des aktuellen Verkehrsministers.

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