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In der Stadt braucht man keine Jacke wie Reinhold Messner sie bei Expeditionen trägt.

© Sven Hoppe/dpa

Stilkritik: Outdoorkleidung gehört nicht in die Innenstadt

Berlin ist voller Menschen, die gekleidet sind wie die Teilnehmer einer Polar-Expedition. Welches Geheimnis steckt hinter dem unheimlichen Trend zu Outdoorkleidung? Unser Autor ist genervt.

Haben Sie sich schon mal einen Taucheranzug angezogen, um ins Büro zu fahren? Sind Sie schon mal mit einem Bademantel in die Oper gegangen, oder im Bikini zum Bankett? Nein? Finden Sie eine komische Vorstellung? Ich auch – und die Mehrheit unserer Mitbürger wohl ebenso. Eine unausgesprochene Übereinkunft scheint die Menschheit in diesem Punkte zu einen: Es gibt Kleidungsstücke und Situationen, die passen nicht zusammen

Allerdings versagt diese intuitive Stilsicherheit hierzulande bei Tausenden regelmäßig, wenn es um Outdoorkleidung geht. Sie wissen: diese sündhaft teuren Spezialklamotten, gemacht für hochalpine Witterungsbedingungen oder Arktisexpeditionen von Herstellern wie North Face, Vaude, Jack Wolfskin, Patagonia oder Wellensteyn. Wasserabweisende, atmungsaktive Anoraks mit abnehmbaren Pelzkrägen, UV-Strahlenschutz, hunderttausend versteckten Taschen und Reißverschlüssen, mit Unterarmventilation und strahlenabweisender Handytasche.

Kaum liegt der Spekulatius in den Supermarktregalen sind sie überall: in der U-Bahn, der Imbissbude, der Fußgängerzone, im Kino, im Park, sogar im Kindergarten und auf dem Spielplatz. Im Wendland lief jüngst die halbe Führungsriege der Grünen in den Jacken mit dem Tatzen-Logo auf. Eine Kollegin, die kürzlich über den Berliner Alexanderplatz lief, zählte bei einer einzelnen Überquerung 47 Jack-Wolfskin- und 14 North-Face-Jacken. Wahnsinn!

Gucken Sie sich mal um, wenn Sie das nächste Mal spazieren gehen. Auch Ihnen werden sich die goldenen Worte des westfälischen Philosophen Herbert G. aufdrängen: Was soll das? Warum nur kleidet sich die halbe Bevölkerung in Jacken, die für Aufenthalte im Hochgebirge entwickelt und für den Alltag in der Stadt völlig übertechnologisiert sind?

Ist das Leben eine Steilwand in 3000 Meter Höhe? Ist der Weg zur Arbeit eine Expedition? Der Stadtbummel eine Reise durch lebensfeindliche Umgebung? Mit Sicherheit nicht. Warum nur tun die Leute, als wäre das so,

Outdoor-Ausrüstung bringt Firmen Milliarden

Manch einer sagt, es sei die Liebe zu Wald und Wiese, die sich da Bahn bricht. Seit der Mensch aus dem Garten Eden rausflog, wolle er zurück zur Natur. Mal mehr, mal weniger dringend. Stimmte das, dann wäre der Drang gerade ganz gewaltig: Trotz Krise ging das Geschäft der Outdoor-Ausrüster in den vergangenen Jahren durch die Decke. Allein in Deutschland beträgt das Umsatzvolumen der Branche derzeit gute 1,6 Milliarden Euro pro Jahr. Tendenz steigend. Jack Wolfskin, der größte deutsche Anbieter, machte im Jahr 2009 ein Umsatzplus von 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Konkurrent Vaude ist nach eigenen Angaben in den vergangenen fünf Jahren jeweils zweistellig gewachsen. Alles mit dem Verkauf von Kanus und Kompassen, von Schlafsäcken und Seilen, aber wohl vor allem durch den von hochgerüsteten Regenjacken, den dazugehörigen Hosen und Schuhen.

Was für ein Quatsch die These mit der Naturverbundenheit ist, zeigt allerdings schon eine oberflächliche Analyse des Produkts. Schließlich gibt es kaum etwas Künstlicheres als eine Outdoorjacke. Das Innenfutter besteht aus Polyesterfleece oder Polyamid, zum Abdichten gibt es obendrauf eine Schicht Polyurethan oder Polytetrafluorethylen. Klingt das nach etwas, was auf irgendeinem Baum der Welt wachsen würde?

Wollten die Träger der Jacken wirklich Natur, ließen sie sie im Laden hängen, rieben sich gegen die Kälte mit Lebertran ein und trügen Pelz vom selbst erlegten Wildschwein. Ein Naturfreund mit Outdoorjacke aber hat etwas von einem Existenzialisten mit Bausparvertrag.

Trotzdem scheint es da ein Ur-Bedürfnis zu geben, das die Modeindustrie fleißig zu melken weiß. Meine Schwester arbeitet bei einer großen deutschen Bekleidungskette. Sie sagt: „Wenn wir irgendwo auf ein Etikett schreiben, dass ein Kleidungsstück eine Funktion hat, dann kaufen die Leute das.“ Mit was man werbe, sei dabei egal. Ob besonderer Regenschutz, extra Taschen, bessere Belüftung, völlig schnurz. Auch dass die Mehrheit der Käufer die beworbenen Funktionen gar nicht braucht – egal. Der Umsatz steigt.

Somit bleibt nur noch ein Motiv übrig: Eitelkeit. Wer etwas trägt, was er nicht braucht, will damit etwas darstellen. Galauniformen oder Hochzeitskleider erfüllen in ihrer alltagsuntauglichen Sperrigkeit ja auch keinen Zweck als den, ein Symbol zu sein. Schon Georg Simmel wusste: Die Mode „erhebt eben auch den Unbedeutenden dadurch, dass sie ihn zum Repräsentanten“ macht.

In dem Sinne geht es beim Tragen von Outdoorkleidung nicht mehr um das Rüsten für Extremsituationen, sondern nur noch um deren Simulation – oder besser: um deren Behauptung. Sehet, ich wäre bereit, Wind und Wetter zu trotzen, arktischen Temperaturstürzen und steilen Geröllhängen – so ich mich denn in Gefahr begeben würde.

Ein letztes Stück Überlebenskampf

Die Jacke demonstriert Gefahr und Grenzerfahrungen, selbst wenn der domestizierte Träger nur noch für Gasetagenheizung und Gemütlichkeit steht. Ein letztes Stück Überlebenskampf im durchregulierten Alltag. Sehnsucht zum Anziehen quasi. Frei nach Thomas Hobbes: „Der Mensch ist des Menschen Wolfskin.“

Naja, aber praktisch sind die doch!, höre ich die Träger einwenden. Ja, Himmelherrgott, das gilt ebenso für Windeln und Schwimmflügelchen. Und die ziehen Sie ja auch nicht freiwillig an!

Die Psychologie kennt solche Verhaltensmuster übrigens zur genüge. Googlen Sie nur mal die Begriffe „Stimulationsbedürfnis“ und „Sensation Seeking“. Beides besagt: Um die durch die fortschreitende Zähmung und Technologisierung des Alltags ständig sinkende Gefahr zu kompensieren, flüchtet der moderne Mensch sich in Ersatzhandlungen. Niemand muss heute mehr Stöcke anspitzen, um sein Abendessen zu erlegen, mit dem Leatherman am Gürtel kann man sich aber wenigstens fühlen, als wäre dem so.

Auch wer nicht mehr um sein Überleben kämpfen muss, lässt sich im Abendprogramm eines Senders mit Bildungsauftrag sonntäglich von blutigen Gewaltverbrechen unterhalten. Idealerweise, während neben ihm der gasbetriebene Kamin hinter Sicherheitsglas so tut, als wäre er ein Lagerfeuer. Und wie viele Jeep Cherokee oder Porsche Cayenne werden wohl jemals eine Offroadpiste zu sehen bekommen? Alles, was die sehen, sind Kitaparkplätze und Supermarktgaragen. Dem Naiven am Steuer vermitteln sie trotzdem das Gefühl, mehr zu sein als das Würstchen, das er in Wahrheit ist. Ein solches Verhalten aber ist – entschuldigen Sie, dass ich das so sage – kindisch.

Hat man diese Zusammenhänge einmal verstanden, wundert es auch nicht mehr, dass die Werbung für die Klamotten gewaltig an alte Zigarettenreklame der Kategorie „Camel Trophy“ erinnert. Der Outdoorjackenträger ist der moderne Marlboro-Mann. Dass sich auch Frauen von dem Image angesprochen fühlen und sich gerne in Funktionsplastik kleiden, lässt befürchten, dass sich die Soziologin Judith Butler mit ihrer Forderung nach kompletter Aufhebung jedweder Geschlechtergrenzen viel weiter durchgesetzt hat als landläufig angenommen. Catherine Deneuve ist tot, Lara Croft hat gewonnen.

So viel Selbstbestätigung darf dann natürlich auch gerne was kosten. 459,95 Euro sind für die Alpine Doppeljacke Modell „Broad Peak“ fällig, 380 Euro für das Konkurrenz-Modell „Shivling“ in signalorange. Nur logisch, dass viele Freizeit-Abenteurer da auf Mengenrabatt setzen und gleich die komplette Familie in die Anziehplumeaus packen. Anders ist das Phänomen, dass die Kunststoff-Liebhaber fast ausschließlich im Rudel anzutreffen sind, kaum zu erklären.

Das Wort paradox aber kennt der Outdoorjackenträger nicht. Einerseits will er wild und gefährlich, aber erlesen muss es dann doch sein. Dass auch seine Textilien günstig in Südostasien zusammengenäht werden – nicht so wichtig. Wir empfehlen dringend die neuerliche Lektüre von Jean-Jacques Rousseaus „Discours sur l'inégalité“. Unter einem „edlen Wilden“ hatte der sich jedenfalls etwas anderes vorgestellt.

Polarjacken gehören nicht in Shoppingzentren

Dabei habe ich gar nichts gegen die Jacken an sich. Dass Reinhold Messner auf dem Berg erfriert, will auch ich nicht. In meinem Bekanntenkreis gibt es sogar einen Verrückten, der im Urlaub regelmäßig mit Schneeschuhen Wanderungen durch das ewige Eis Grönlands oder Lapplands macht. Dass der so eine Polarpelle braucht, sehe ich ein. Kehrt er allerdings heim in die Zivilisation, verschwindet das Ding im Schrank, wo es hingehört. Zur Arbeit geht er dann im Wollmantel. Er hat verstanden: Alles hat seinen Ort und Platz. Der Ski-Overall gehört auf die Piste, der Smoking auf den Ball, die Brandschutzweste ins flammende Inferno. Aber mit einer Polarjacke zum Einkaufsbummel, das ist ähnlich behämmert wie mit schusssicherer Weste auf den Kindergeburtstag. Die Thermojacke gehört ins Packeis, nicht in die Innenstadt.

Früher gab es ein paar einfache Regeln, die solche Entgleisungen verhinderten: „No brown when in town“, sagte beispielsweise der Engländer, wenn es ums Schuhwerk ging. Es wäre schön, wenn es heute für das Tragen von Outdoorkleidung eine ähnliche Vorschrift gäbe. „No Anorak when in Innenstadt“ oder so. Da mir aber bewusst ist, dass man in unseren liberalen Zeiten mit Kleidervorschriften für den öffentlichen Raum nur noch wenig Zustimmung erntet, appelliere ich an die Vernunft. Machen Sie die Augen auf: Sie sind verweichlicht und verhätschelt. Sie haben keine Ahnung, wie man Feuer mit Steinen macht oder ein Iglu baut. Sie haben nie die Eiger Nordwand bezwungen, nie Sibirien mit Schlittenhunden durchquert, nie Blizzards getrotzt.

Stehen Sie dazu! Ihr Leben ist keine Expedition. Wem wollen Sie was vormachen? Sie sind Großstädter, bitte benehmen Sie sich auch wie einer.

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