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PORTRÄT CHIARA SARACENO FAMILIENSOZIOLOGIN:: „Familie ist kein Ersatz für Familienpolitik“

Dass das vereinte Europa noch immer keine europäische Öffentlichkeit kennt, noch immer eher Idee als gelebte Wirklichkeit ist, macht nicht erst die Griechenlandkrise deutlich. Es lässt sich auch an der Rolle derjenigen studieren, für deren Arbeit Grenzen schon lange nicht mehr existieren: Wissenschaftler.

Dass das vereinte Europa noch immer keine europäische Öffentlichkeit kennt, noch immer eher Idee als gelebte Wirklichkeit ist, macht nicht erst die Griechenlandkrise deutlich. Es lässt sich auch an der Rolle derjenigen studieren, für deren Arbeit Grenzen schon lange nicht mehr existieren: Wissenschaftler. Ausländer gibt es, auch in Berlin, überall im Wissenschaftsbetrieb. Doch wenn ihre Expertise gefragt ist, in nationalen Medien und Enquete-Kommissionen, sind sie eher selten gefragt.

Eine von denen, die man immer fragen sollte, wenn man mehr als einen Tunnelblick auf die moderne Welt braucht, kam vor sechs Jahren aus Italien nach Berlin, ans Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, und in ein paar Tagen, Ende Juni, zieht sie zurück nach Turin: Chiara Saraceno, eine der wichtigen Familiensoziologinnen Europas, Armuts- und Sozialstaatsexpertin. In Berlin widmete die inzwischen 70 Jahre alte Forscherin, die mehrere römische Regierungen beraten hat, sich vor allem dem Vergleich der Sozialsysteme: Welche Form von Welfare funktioniert wo – und warum anderswo nicht?

Die Herkunft hat ihre Sicht dabei geprägt und geschärft: Die gebürtige Mailänderin aus einem nach wie vor tief katholisch imprägnierten Mittelmeerland sah früher als Nordeuropa über die Kleinfamilie hinaus: Während hier noch die (Un-)Vereinbarkeit von Kindern und Beruf studiert wurde, nahm sie schon die Lage berufstätiger Kinder und pflegebedürftiger Eltern ins Visier. Und vom Norden aus wirft sie einen klaren Blick aufs eigene Land: Dessen Sozialstaat setze praktisch bis heute auf die Familie – was jetzt, in einer alternden Gesellschaft, dramatisch werde, und schon lange die Ungleichheit der Geschlechter zementiere.

In Frauenfragen nimmt Saraceno ohnehin kein Blatt vor den Mund. Über den Machismo der italienischen Politik, die Marginalisierung der Frauen, den Berlusconismus und seine Beziehung zum Katholizismus – darüber kann sie hochinformiert, scharf und witzig schreiben und sprechen. Und tut es regelmäßig in Italiens großen Blättern und Sendern.

Nun wartet auch privat die Enkelgeneration auf Chiara Saraceno, daheim in Turin. Eine ihrer Zwillingstöchter hat sie zur Großmutter gemacht. Da aber ein Großvater mit engen Bindungen an Deutschland zur Familie gehört – Saracenos Ehemann, der Politologe Gian Enrico Rusconi, ist Deutschlandspezialist – ist der Abschied von Berlin sicher nicht für ewig. Andrea Dernbach

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