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POSITIONEN: Der Stammtisch hat unrecht

Die Politik und auch die Politiker in Deutschland sind besser, als viele meinen

In Wahlkampfzeiten ist immer wieder – bei seriösen Leitartiklern wie an Stammtischen – die populäre Klage zu hören, dass die Zeithorizonte, in denen Politiker denken, viel zu kurz seien. Politiker dächten immer nur bis zum nächsten Wahltermin. Und durch den steten Wechsel von Landtags- und Bundestagswahlen seinen das sogar weniger als vier Jahre. Das hört sich alles plausibel an. Aber sind das wirklich sinnvolle Vorwürfe?

Der Vorwurf des zu kurzen Zeithorizonts kommt nur dann zum Tragen, wenn man wüsste, was langfristig richtig ist. Das ist aber in einer unsicheren Welt nicht der Fall. Man denke nur an den feste Glauben der letzten Jahre, dass man „die Märkte“ möglichst wenig regulieren sollte. Jetzt sind fast alle vom Gegenteil überzeugt. Was ist langfristig richtig?

Auch der Wunsch, dass man Bleibendes für nachfolgende Generationen schafft, reicht ja nicht aus, um das auch tatsächlich erfolgreich zu tun. Jeder kann sich irren. Und nicht nur Stammtische, auch Wissenschaftler können sich bezüglich der Zukunft gründlich vertun. Selbst wenn Politiker mehr auf die Wissenschaft hören würden, würden sie – gemeinsam mit ihren Beratern – trotzdem Fehler machen. Und genau deswegen gibt es so oft Wahlen: Es muss immer wieder die Chance zur Revision von Politik bestehen. Durch die föderale Ordnung in Deutschland besteht zudem die Möglichkeit, dass einiges in einzelnen Ländern ausprobiert wird und andere davon lernen können. Ob der Preis, der dafür gezahlt wird, nämlich praktisch permanente Wahlen und Wahlkämpfe, zu hoch ist, weiß niemand.

Wie schwierig es ist, mit den Unsicherheiten der Zukunft umzugehen, müssten die Wirtschaftsführer, die die Politik gerne beschimpfen, eigentlich selbst am besten wissen. Großunternehmen werden schließlich von Quartalsberichten geprägt. Und auch das Denken an die nächste Bonuszahlung reicht ja nicht weiter als ein Jahr. Gemessen an drei Monaten bis zum nächsten Quartalsbericht und einem Jahr bis zum nächsten Bonus ist der Zeithorizont von vier oder fünf Jahren von einer Wahl zur nächsten ja nahezu unübersehbar lang. Und in der populistischen Stammtischdiskussion wird übersehen, dass Parteien gewissermaßen unendlich lange Planungshorizonte haben. Denn selbst wenn einzelne Akteure, was ja gerade an der Spitze durchaus vorkommt, nur an sich denken, dann denken die viel gescholtenen Parteiapparate aus Eigennutz über den nächsten Wahltermin hinaus.

In der Tat zeichnet sich die deutsche Parteiendemokratie durch langfristige Projekte aus. Etwa den Klimaschutz, der hier viel energischer vorangetrieben wird als in jenen Ländern, die stärker auf – auch von uns bewunderte – Politikerpersönlichkeiten setzen wie Frankreich und die USA. Vielleicht war es auch nur durch die „Unbeweglichkeit“ der Parteiapparate möglich, wirklich grundlegende Reformen durchzuziehen? Man denke etwa jüngst an die langsam zum Erfolg reifende „Riester-Rente“, die in einer Präsidialdemokratie wegen anfänglicher Wirkungslosigkeit sicher schnell wieder abgeschafft worden wäre. Oder an die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die ja fast zwei Jahrzehnte keinen sichtbaren Erfolg brachte. Auch die Ostpolitik wäre ohne die Beharrlichkeit eines großen Parteiapparats nicht möglich gewesen. Begünstigt durch das Verhältniswahlrecht, das in Deutschland zu Koalitionen zwingt und vergleichsweise reibungslose Veränderungen der Politik erlaubt.

Sicher gilt, dass auch Parteiapparate und Koalitionen irren. Aber insgesamt sind die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland mit dem durch starke Parteien und Parteiapparate geprägten Politik nicht schlecht gefahren. In Präsidialdemokratien – wie in Frankreich oder den USA – und auch vom Mehrheitswahlrecht geprägten Regierungen – wie in Großbritannien – kommt es hingegen immer wieder zu erratischen Politikwechseln. Man denke an die Steuerreformen in den USA oder die Hauruck-Deregulierung in Großbritannien. Von Kriegen, die von US-Präsidenten angezettelt werden, ganz zu schweigen.

Der Autor leitet die Langfrist-

studie „Leben in Deutschland“

am DIW Berlin.

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