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Putin und Europa: Visionen mit Reserven

Wladimir Putins Vision einer europäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok entspricht durchaus alten westeuropäischen Visionen. Die Bundeskanzlerin bleibt dennoch reserviert. Woran krankt das europäisch-russische Verhältnis?

Eigentlich passt alles zusammen. Eigentlich.

Russland verfügt über Rohstoffe, die Europa braucht. Russlands Industrie ist in einem desolaten Zustand, Europas Industrie die innovativste der Welt. Russlands Infrastruktur ähnelt der eines Dritte-Welt-Landes, Europa verfügt über das Know-how und die Spezialisten, Straßen, Eisenbahnen und Versorgungsleitungen beim großen östlichen Nachbarn auf das Niveau des 21. Jahrhunderts zu bringen. Und so, wie sich Europa und Russland im zivilen Bereich hervorragend ergänzen könnten, wäre auch eine sicherheitspolitische und militärische Kooperation – unter Einbeziehung Nordamerikas – zum beiderseitigen Vorteil.

Eigentlich. Tatsächlich harzt es in der Zusammenarbeit auf vielen Gebieten. Gegenseitiges Misstrauen erschwert wirtschaftliche Entscheidungsprozesse, beklagen wechselweise Russen oder Europäer. Dem anderen mangle es an gutem Willen, sagen sie. Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin warb in Berlin jetzt für mehr Miteinander und beklagte das Gegeneinander. Seine Vision einer europäischen Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok, oder eine gar noch weiter gehende Verbindung der Wirtschaften dieser Länder, entspricht durchaus alten westeuropäischen Visionen. Sie stößt dennoch auf Reserven der deutschen Bundeskanzlerin. Woran krankt das europäisch-russische Verhältnis?

In der Europäischen Union der 27 Staaten ist die Erinnerung der jungen EU-Mitglieder im Osten an die Willkürherrschaft der alten Hegemonialmacht Russland geradezu virulent. Vom Baltikum über Polen, Tschechien, die Slowakei bis nach Ungarn und Bulgarien reicht das Misstrauen. Rumänien hat an seiner Nordgrenze einen ungelösten territorialen Konfliktherd, in den Russland involviert ist. Wenn der starke Mann Russlands ausgerechnet in Berlin um Vertrauen wirbt, trägt er damit zwar den europäischen Realitäten Rechnung, weckt aber gleichzeitig in Polen oder im Baltikum die Sorge, es könne wieder eine russisch-deutsche Einigung auf dem Rücken der Zwischenmächte geben.

Das Gefühl dafür, dass man sich einen Vertrauensvorschuss gerade auf der internationalen Ebene erarbeiten muss, geht Putin so ab, wie es schon Boris Jelzin abging. Im Inneren Russlands hat die Regierung einen Machtapparat, auf den sie sich in ihrer sogenannten „souveränen Demokratie“ stützen kann, wobei diese Begriffspaarung eben leider oft bedeutet, dass sich die Mächtigen souverän über demokratische Gepflogenheiten hinwegsetzen. Das aber macht den möglichen Partnern auf der europäischen Bühne Angst. Erstmals hat Wladimir Putin das jetzt in Berlin eingeräumt, als er sagte: Mitunter reagieren wir nicht korrekt.

Wer nicht den berufsmäßigen Optimismus zur Schau trägt, der den Ostausschuss der deutschen Wirtschaft kennzeichnet, sorgt sich deshalb bei einem Engagement in Russland. Er bangt um die Rechtsstaatlichkeit und fürchtet Korruption und Gewalt mehr als das Platzen eines Geschäfts. Genau dieser Zweifel an der Berechenbarkeit des potenziellen Partners macht es russischen Kapitalanlegern in Deutschland so schwer. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat Russland gezeigt, dass es sich von weltweiten ökonomischen Turbulenzen nicht abkoppeln kann, selbst wenn es sie nicht verursacht hat. Putin beklagte das in Berlin zu Recht. Da Isolation also nicht funktioniert, hilft nur Kooperation auf der Basis des Respekts – gerade, wenn und weil eigentlich doch alles zusammenpasst.

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