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Meinung: Rechtswege: Out of Kempten

Von 1947 bis 1965 galt Johann Evangelist Lettenbauer als der Mörder seiner Tochter Maria und seines Enkels Arthur. Er war einem Fehlurteil zum Opfer gefallen.

Von 1947 bis 1965 galt Johann Evangelist Lettenbauer als der Mörder seiner Tochter Maria und seines Enkels Arthur. Er war einem Fehlurteil zum Opfer gefallen. Am 10. August 1965 sprach ihn ein Schwurgericht in Kempten in einem Wiederaufnahmeverfahren frei.

Der Mann, der tatsächlich die Tochter und den Enkel des inzwischen 82 Jahre alten Lettenbauer getötet hatte, stand 1966 in Kempten vor Gericht, vor einer Jugendkammer, wegen seines Alters zur Tatzeit. Und der Mann, der die Tat gestanden hatte, freilich nicht unter dem Druck seiner Befrager, sondern weil ihn ein Tatzeuge, zur Tatzeit ein Freund von ihm, belastet hatte - wurde freigesprochen. Doppelmord und schwerer Raub seien nach so langer Zeit nicht zu beweisen. Und Totschlag und Körperverletzung mit tödlichem Ausgang seien ohnehin nicht mehr zu erörtern gewesen, weil verjährt. Aus dem Justizirrtum Lettenbauer war die Tragödie Lettenbauer geworden.

Die Staatsanwaltschaft legte Revision ein. In der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof trug der damalige Generalbundesanwalt Martin persönlich die Forderung nach Aufhebung des Freispruchs vor und hatte Erfolg damit. Die Jugendkammer hatte es unter anderem versäumt, den Richter und den Staatsanwalt zu hören, vor denen der Angeklagte sein von ihm widerrufenes Geständnis abgelegt hatte.

Es kam zu einer neuen Hauptverhandlung vor einer Jugendkammer des Landgerichts Augsburg. Urteil: sieben Jahre Jugendstrafe. Den Angeklagten hatte ein anonymes Schreiben zu entlasten versucht. "Mehrere Einwohner und Bürger" hielten es für möglich, dass Lettenbauer Vater seines Enkels war und eigenhändig die Tochter und das Kind tötete, um die Blutschande auszulöschen.

Ministerdruck widerstanden

In Kempten hat es aber auch andere Urteile gegeben als den Freispruch des Mannes, der Lettenbauers Tochter und Enkel tötete. In einem Strafprozess, in dem der zu früh gestorbene Sebastian Cobler verteidigte, war ein junger Mann angeklagt, der mit seiner Freundin verkehrt hatte, obwohl er mit Aids infiziert war. Das Gericht stand unter erheblichem Druck, war doch in dem Aufsatz eines Ministerialen in einer Fachzeitschrift die Meinung vertreten worden, in Fällen wie diesem sei zu bestrafen und zwar hoch. Doch die Verteidigung hatte Erfolg. Der Freundin des Angeklagten war die Infektion jenes Freundes bekannt gewesen und sie war trotzdem das Risiko des Verkehrs mit ihm eingegangen. Und sie war keine liebesblinde, sondern eine bewundernswerte junge Frau: Sie hatte ihre Mutter bis zu ihrem Tod allein gepflegt und gleichzeitig ihren Schulabschluss gemacht. Sie hatte aus freien Stücken, für sich selbst verantwortlich gehandelt, erkannte das Gericht an.

Es ist einmal wieder der französische Moralist zu zitieren, der schrieb: "Man erlebt alles - aber auch das Gegenteil." Kempten ist kein neonazistischer Hort, obwohl eine Kammer des Landgerichts Hermann Josef Reichertz freigesprochen hat, von dem Michel Friedman mit dem Wort "Zigeunerjude" beleidigt wurde.

Friedman verhöhnt

Menschen richten über Menschen, und es gibt keine Gerichtsbarkeit und keinen Gerichtsort, die nicht mit irgendeiner Entscheidung irgendwann Empörung auslösten - bei den einen; und laut oder heimlich zustimmende Freude - bei anderen. Was die Meinungsfreiheit zulässt ist heute, in einem neuen Zeitalter, in dem jede Meinung zu Wort kommen kann und Verbreitung findet, heikler denn je.

Friedman fühlt sich verhöhnt, und ich verstehe ihn. Doch es ist keine Rarität, dass von Persönlichkeitsverletzungen gesagt wird, sie seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Ich verstehe den von mir verehrten Paul Spiegel, der von einem "Offenbarungseid der deutschen Justiz" gesprochen hat. Doch unsere Justiz offenbart wie die aller Länder der Welt täglich, dass es Menschen sind, die richten. In Kempten ist Hermann Reichertz freigesprochen worden, obwohl der Vorsitzende ausdrücklich die Äußerung des Angeklagten missbilligt hat. Die Staatsanwaltschaft hat Revision eingelegt, und das war selbstverständlich, nachdem Reichertz in erster Instanz zu 6000 Mark Strafe verurteilt worden war.

Warum die Bundesjustizministerin das mit Genugtuung aufnimmt, und warum sie aus rechtsstaatlicher Verantwortung meint, das Kemptener Urteil öffentlich kritisieren zu müssen - nun, sie "pflegt nicht", unabhängige Gerichte zu kritisieren. Verzeihung: Sie hat nicht zu kritisieren. Sie hat die Unabhängigkeit der Gerichte zu respektieren.

Noch gibt es ausreichend Rechtsmittel gegen Urteile. Und rechtliche Wege, gegen Richter vorzugehen, die ihre Unabhängigkeit missbrauchen. Daran hat der Versuch, sich reformatorisch einen Platz in der Geschichte zu schaffen, noch nichts geändert. Es liegt kein nationaler Notstand vor, der alles rechtfertigt.

Gerhard Mauz

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