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Religionskritik und Religionsfreiheit: Anschläge gefährden fundamentale Werte

Anschläge wie die in Norwegen dürfen kein Anlass sein, die Meinungsfreiheit einzuschränken, meint Malte Lehming. Auch das Recht auf Religionskritik darf nicht infrage gestellt werden. Wer die richtigen Lehren ziehen will, stärkt beides.

Der Papst ist ein reaktionärer Knochen, der Katholizismus frauenfeindlich und homophob. Das Christentum ist antiaufklärerisch – und der Missbrauch an Kindern eine Folge von Zölibat und verklemmter Sexualmoral. Hexenverbrennung, Inquisition, Kreuzzüge, Antisemitismus, Wissenschaftsfeindschaft: Das alles gehört zum furchtbaren Erbe, das die angebliche „Religion des Friedens“ zu verantworten hat.

Solche Ansichten sind im säkularen Europa weit verbreitet. Die fundamentale, zum Teil aggressive Kritik an christlicher Lehre, Praxis und Historie wird von Humanisten und Liberalen, Feministinnen und Bürgerrechtlern geteilt. Radikale Atheisten, wie Richard Dawkins und Christopher Hitchens, gelten aufgrund ihrer Warnungen vor einem „Glauben an den Glauben“ als klug, gebildet und fortschrittlich. Über die Filme der britischen Komikertruppe Monty Python („Das Leben des Brian“) wird gelacht, Martin Kippenbergers gekreuzigter Frosch bewundert, und wenn Jesus Christus als Kiffer gezeichnet wird, stört das niemanden. Proteste gegen den Papst, wie derzeit in Madrid beim Weltjugendtag oder demnächst in Berlin, gehören fast schon zum guten Ton.

Daran würde sich auch nichts ändern, wenn morgen ein fanatischer Christenhasser – was Gott verhüten möge! – ein Massaker an allzu toleranten Christenverstehern veranstalten würde. Kein Christentumskritiker würde zu Kreuze kriechen, keiner käme auf die Idee, in Christentumskritik geistige Brandstiftung zu sehen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung würde ebenso verteidigt wie die Notwendigkeit von Religionskritik. Denn: Einem solchen Attentäter die Diskurshoheit über das richtige Maß an Religionskritik einzuräumen, käme einer Kapitulation gleich.

Das Beispiel ist drastisch, es klingt wie an den Haaren herbeigezogen und könnte als Demagogie interpretiert werden. Doch warum war der gesellschaftliche Reflex nach dem Massenmord des antimuslimischen Terroristen Anders Behring Breivik so anders? Warum wurde da plötzlich jede Art von Islamkritik in kausale Mithaftung genommen – und zwar ausgerechnet auch von jenen, die in der Beurteilung des Katholizismus sonst nicht gerade zimperlich sind? Warum ist es aufklärerisch, totalitäre Strukturen in der Hierarchie des Vatikan zu diagnostizieren, aber fremdenfeindlich, auf den Zusammenhang zwischen Islam und religiöser Intoleranz hinzuweisen?

Lesen Sie weiter auf Seite 2: Nicht die falschen Konsequenzen aus den Anschlägen von Norwegen ziehen

Nein, Breivik darf nicht Anlass sein, die Meinungsfreiheit einzuschränken oder das Recht auf Religionskritik infrage zu stellen. Massive Integrationsdefizite im Bildungs- oder Arbeitsbereich bei Migranten mit muslimischem Hintergrund können Folge ihrer Herkunft oder sozialer Missstände sein. Aber einen Zusammenhang auch mit ihrer Religion zu vermuten, ist nicht illegitim. Dasselbe gilt für Ehrenmorde, Steinigungen, Selbstmordattentate. Die Macht der Religion außer Acht zu lassen, wenn gesellschaftliche Probleme bis hin zu Verbrechen verstanden werden sollen, wäre ignorant.

Etwas anderes freilich ist der apokalyptische Antiislamismus. Wenn der Islam an sich das Problem ist, weil ihm die Expansion und Aggression immanent sind, kann es per definitionem keine guten Muslime geben. Dann ist jeder Muslim, egal was er glaubt und tut, ein Feind. Viele Zitate von Geert Wilders drücken eine solche Endkampf-Mentalität aus, propagiert wird sie ebenfalls von einigen amerikanischen Evangelikalen wie Jerry Falwell („Mohammed war ein Terrorist“) oder Franklin Graham („Der Islam ist böse“). Wenn es wahr ist, dass von der Rassenlehre Gobineaus zumindest ein indirekter Weg nach Auschwitz führt und von den Hasspredigten militanter Muslime zumindest ein indirekter Weg nach Nine-Eleven, dann hat am Tag des norwegischen Attentats dieser apokalyptische, manichäische Antiislamismus seine Unschuld verloren.

Es ehrt bis heute den ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush – daran muss kurz vor dem 10. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 erinnert werden –, dass er nur wenige Tage nach dem Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers in New York das Islamische Zentrum in Washington D.C. besuchte und sagte: „Das Gesicht des Terrors ist nicht das wahre Gesicht des Islam. Der Islam ist eine friedliche Religion. Wir kämpfen nicht gegen den Islam.“ Daran hielt Bush, zum Teil gegen heftigen Widerstand klerikal-konservativer Kreise, bis zum Ende seiner Amtszeit fest. Wer ihn als „christlichen Kreuzzügler“ diffamiert oder gar in einem Atemzug mit Breivik nennt, hat die große religiöse Toleranz dieses Menschen nicht verstanden.

Sein Nachfolger im Amt, Barack Obama, unterscheidet ebenso klar zwischen Islam und Islamismus, Glaube und Fanatismus. In seiner historischen Rede in Kairo versprach er: „Ich sehe es als Teil meiner Verantwortung als Präsident der Vereinigten Staaten an, gegen negative Stereotype über den Islam vorzugehen, wo auch immer sie auftreten mögen.“

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder Mensch hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst oder die Vollziehung von Riten zu bekunden.“

Nun erschöpft sich das Wesen der meisten Religionen nicht im Spirituellen, sondern umfasst sehr viel mehr. Von der Geburt über die Ehe bis zum Tod, vom Geschlechtlichen bis zum Essen, von Gerechtigkeits- bis zu Friedensfragen: Fast alles wird geregelt, mal dogmatisch, mal weniger streng. Und auch für einen gläubigen Christen sind die Worte Gottes Richtschnur und oberster Maßstab seines Handelns – nicht allein die bürgerlichen Gesetze. Von daher ist es kein Zufall, dass religiöse Menschen wie Bush die Religionsfreiheit von Muslimen nie bezweifeln oder gar antasten. Einer wie Bush versteht, dass sich Religionen nicht gänzlich privatisieren lassen und Gläubige durchaus auch weltanschaulich disponiert sind.

Wer Moscheen bauen, Kopftücher tragen oder einfach nur beten möchte, muss das in einem freien Land dürfen. Dass es sich dabei um elementare Freiheitsrechte handelt, spüren Christen vielleicht noch deutlicher als Säkularisten. Zu den ersten Verbänden, die in Deutschland die religiösen Rechte von Muslimen verteidigen, gehören die beiden christlichen Kirchen und der Zentralrat der Juden (obwohl der keine explizit religiöse Organisation ist). Markus Dröge, der Bischof von Berlin-Brandenburg, hat gerade betont, dass für Christen die NPD wegen ihrer Religions- und Fremdenfeindlichkeit niemals wählbar ist.

Lesen Sie weiter auf Seite 3: Säkularismus geht oft einher mit Religionsverachtung

Vielleicht ist auch das kein Zufall: Fremdenfeindliche und antimuslimische Parteien in Europa sind überall dort besonders stark, wo der christliche Glaube keine gewichtige Rolle mehr spielt. Beispiel Skandinavien. Laut „European Social Survey“ (Gallup) besuchen in Dänemark (Dänische Volkspartei) lediglich drei Prozent der Bevölkerung mindestens einmal pro Woche die Kirche, in Schweden (Schwedendemokraten) und Finnland (Wahre Finnen) sind es magere fünf Prozent. Niedrig sind die Zahlen auch in Frankreich (Front National) und Deutschland (unter zehn Prozent), in Ungarn (zwölf Prozent) sowie in Belgien und den Niederlanden (unter 15 Prozent). Von den katholischen Ländern Westeuropas hat Österreich (Freiheitliche Partei) mit 18 Prozent die niedrigste Rate.

Die Ergebnisse decken sich mit der aktuellen Global-Advisor-Studie, durchgeführt vom großen britischen Meinungsforschungsinstitut Ipsos Mori in 24 Ländern weltweit. Die Frage, ob Religionen das ethische Fundament von Gesellschaften im 21. Jahrhundert bilden können, verneinen die meisten Menschen in Frankreich, Belgien und Schweden. Auf die Frage, wie wichtig der Glaube in ihrem persönlichen Leben sei, liegen die Bewohner von Belgien, Deutschland, Spanien, Schweden und Frankreich ganz hinten. In Deutschland, Ungarn und Schweden fühlen sich die meisten Menschen gar keiner Religion mehr zugehörig.

Säkularismus geht oft einher mit Religionsverachtung. Der Gläubige gilt als unaufgeklärt, irrational, kulturell konservativ, latent fundamentalistisch. Kein Wunder, dass der Antiislamismus in säkularen Ländern nicht selten auch religionsfeindlich ist.

Anders Breivik war kein Christ. Wenn sich der Terrorist als Tempelritter verstand, der das christliche Abendland retten wollte, so hatte das weder etwas mit der Bibel oder dem real existierenden Christentum – ob protestantischer oder katholischer Prägung – zu tun (mit Ausnahme einiger radikaler Endzeitpropheten, die randständig sind) noch mit dem, was von irgendeiner Kanzel in Europas Kirchen gepredigt wird. Breiviks Tempelritter-Fantasien orientieren sich eher an Darth Vader als an Jesus Christus. Und wer die richtige Lehre aus dem Attentat ziehen will, stärkt die Meinungsfreiheit ebenso wie die Religionsfreiheit.

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