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Meinung: Rosamunde Pilcher ist schuld!

Pascale Hugues, Le Point

Ein unendlich langer Strand, kalt und fahl. Tausende von Möwen, Tausende von deutschen Rentnern. Die Möwen haben graue Federn und regennasse Köpfchen. Die deutschen Rentner beigefarbene Anoraks und falsche Zähne in strahlendem Edelweiß. Usedom ähnelt im ausklingenden Winter jener apokalyptischen Vision, die die Demografen derzeit an jede sich bietende Wand malen. Wenn die Deutschen nicht endlich Kinder machen, wird in ein paar Jahren das ganze Land so aussehen wie dieser Strand.

Elf Jahre lang brachte meine Urgroßmutter Emilie jedes Jahr ein Kind zur Welt. Das waren noch Zeiten! Louis kam im Krieg um. Jean starb 1901 im Alter von drei Jahren, Pierre mit sechs Monaten, Antoine und Eugénie überlebten die Geburt nicht. Aber Joseph, Maria, Madeleine, Maguerite, Emilie und Odile überstanden die Jahrhundertwende und zwei Weltkriege. Welche Anmut besaßen doch damals die familiären Stammbäume, mit ihren luftigen Verästelungen und zahlreichen Trieben, reich behangen mit Brüdern und Schwestern, Cousins und Cousinen. Wie mickrig und kümmerlich wirken dagegen die heutigen Stammbäume: ein Paar, ein Kind. Und dank der Fortschritte auf dem Gebiet der künstlichen Reproduktion wird es vielleicht bald schon Kinder geben, die ganz allein in der Luft hängen, ohne Baum, ohne Wurzeln.

Warum machen die Deutschen keine Kinder mehr? Die „Ostsee-Zeitung“ fand letzte Woche eine plausible Erklärung für die demografische Agonie. Es ist nicht der Mangel an Kindergartenplätzen. Es hat auch nichts mit der Angst vor Arbeitslosigkeit zu tun oder der Möglichkeit eines Atomkriegs. Auch Vogelgrippe und Rinderwahn scheiden aus. Nein, es ist höchste Zeit, endlich die wahre Schuldige zu benennen: nämlich Rosamunde Pilcher.

Auf die Frage „Auf welchen Genuss könnten Sie einen Monat lang verzichten?“ antworten sechs Prozent aller deutschen Frauen, ohne zu zögern: auf Sex. Dagegen würde es 17 Prozent schwer fallen, auf Sport zu verzichten, 23 Prozent könnten nicht ohne Schokolade auskommen … und für stolze 35 Prozent wäre ein Leben ohne schnulzige TV-Romanzen undenkbar. Ich fürchte, diese traurige Statistik hätte auch meine Urgroßmutter Emilie nicht nennenswert beschönigen können. Sie war eine strenggläubige Katholikin, die es niemals versäumte, sich vor dem ehelichen Akt zu bekreuzigen. Emilie machte Kinder, wie sie Rosenkränze betete: mechanisch. Für sie war der Akt eher eine Gewohnheit als ein freudiges Überschäumen der Libido.

Die Literaturabteilung des Einkaufszentrums „Sky“ im Ostseebad Bansin bestätigt die alarmierende Umfrage. Auf dem Regal zwischen den Spirituosen und den Haushaltswaren siedelt ein kleiner Volksstamm, der ausschließlich aus anmutigen Blondinen und muskelstrotzenden Kavalieren am Steuerrad blutroter Ferraris besteht: „Verliebt in Venedig“ und „Rendez-vous“ (mit Lippenstiftspuren auf dem Umschlag). Eine Bibliothek, die Grabesstille in Deutschlands Schlafzimmern garantiert. Dazwischen nimmt sich „Das große Buch der Vornamen – mit über 5000 Einträgen“ wie ein absurder Irrläufer aus.

Na ja, wenn die deutschen Frauen wirklich darauf warten, dass ein wagemutiger Ritter sie auf einem strahlend weißen Pferd entführt, um ihnen in Venedig ein Kind zu machen … Seit Madame Bovary weiß man doch, dass die Lektüre von Romanen die Herzen junger Mädchen vergiftet. Romane sind süßliche, verführerische Drogen, Parallelwelten aus großen Gefühlen und Herzenswallungen, die die Realität fade machen und die Fortpflanzung verhindern.

Während ich zwischen den Möwen und den Rentnern den Strand entlanglaufe, kommt mir plötzlich ein Gedicht in den Sinn, das einst im reichsdeutschen Elsass beliebt war: „Sparen! Sparen! das ist jetzt die Lösung! / Mit Behemd-, Behauptung und Behosung, / Mit Getränk, Tabak, Papier und Schuh’n! / Ganz besonders aber mit der Nahrung: / Fleisch, Milch, Zucker, Brot und Ei! / Nur mit zweien brauchst du nicht zu sparen: / Mit dem Geld und mit der Kinderzahl!/ An Geburten, auch an illoyalen, / Ist dir selbst Verschwendung freigestellt! / Und um alles, was du sollst, zu zahlen, / Hast Du überhaupt nie zu viel Geld!“

Das war im Juli 1918, ein paar Monate vor Kriegsende. Deutschland litt unter Lebensmittelknappheit und Rationierung, den Vorfahren von Hartz IV und Sparzwang. Und trotzdem lag die brave Emilie allabendlich in ihrem großen Ehebett und machte Kinder, während sie zu Gott betete. Die Pilcher war da noch nicht einmal geboren.

Aus dem Französischen übersetzt von Jens Mühling.

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