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Meinung: Seh(n)süchte

Der Wunsch nach Aufmerksamkeit ist der wichtigste Antrieb des Menschen – und die Mutter aller Süchte. Liebe, Sex, Geld, Mode und Macht sind dafür nur Chiffren

Armer Robbie Williams. Er ist ein Weltstar, hat 65 Millionen Alben verkauft, watet durch ein Meer von Geld und Mädchenherzen und ist doch tiefunglücklich. Seinen 33. Geburtstag verbrachte er in einer Entzugsklinik, wo er sich wegen Alkohol- und Tablettensucht behandeln ließ. Menschen, die im Zentrum der Medieninteresses stehen – Rockstars, Sportler und Politiker – scheinen besonders anfällig für Süchte zu sein. Aufmerksamkeitssucht ist offenbar die Mutter aller Süchte.

„Ist Bindung eine Suchterkrankung?“, fragte Thomas Insel, Direktor des National Institute of Mental Health in den USA, 2003 in einem wissenschaftlichen Artikel. Die Überschrift war nicht ganz ernst gemeint, der Text schon. Der Autor bezog sich auf ein von der Evolution entwickeltes „Belohnungssystem“ in den Gehirnen von Menschen und Tieren. Handlungen, die für das Überleben wichtig sind – Essen, Trinken, Sex – werden durch die Produktion von Glücksbotenstoffen „belohnt“. Auch die Pflege sozialer Bindungen löst durch eine Überschwemmung mit Dopamin, Oxytoxin, Vasopressin und körpereigenen Opiaten Glücksgefühle aus. Nichts motiviert uns mehr als die Aufmerksamkeit anderer Menschen, schreibt der Hirnforscher Joachim Bauer in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“.

An dieses Motivationssystem können jedoch auch künstliche Suchtmacher andocken. Suchtkrankheiten entwickeln sich wohl erst dann, wenn die Sucht nach Aufmerksamkeit als ursprüngliche Sehn-Sucht aller Menschen nicht befriedigt wird: meist durch einen Mangel an Zuwendung, in seltenen Fällen durch ein Übermaß. In einem emotional vernachlässigten Kind entsteht eine furchtbare innere Leere, die es später im Leben mit Ersatzsüchten und Ersatzbindungen vergeblich zu stopfen versucht. Ein verzärteltes Kind, das ständig im Mittelpunkt steht, ist ebenfalls gefährdet, denn es lernt nie, aktiv um Zuwendung zu werben und die Sehnsuchtsspannung bis zur Befriedigung auszuhalten; damit wird sein Motivationssystem ebenfalls fehlprogrammiert. Entstehen später Süchte, dann besetzen Ersatzstoffe jene Rezeptoren der Nervenzellen, die für körpereigene Glücksstoffe vorgesehen sind: Nikotin, Alkohol und Kokain bewirken eine Freisetzung von Dopamin; Heroin und Opium ersetzen körpereigene Opiate. Es können sich aber auch nichtstoffliche Abhängigkeiten entwickeln – Arbeitssucht, Kaufsucht, Spielsucht –, die meist mit fantasierter sozialer Beachtung einhergehen. Durch Arbeit erhofft man sich Erfolg, durch Kauf von Statussymbolen Respekt, durch Killerspiele Anerkennung in der Jugend-Community. Alle Süchte haben gemeinsam, dass sie die Produktion von Glücksstoffen kurzfristig anheizen und langfristig zerstören.

In seinem Buch „Warum ich fühle, was du fühlst“ erklärt Hirnforscher Joachim Bauer, wie die Basis aller Bindungen entsteht, die zwischen Neugeborenen und Eltern. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Hormon Oxytoxin, von Forschern mit Augenzwinkern auch „Knuddelhormon“ genannt. Oxytoxin versetzt frischgebackene Mütter und Väter in einen Glücksrausch und sorgt dafür, dass sie sich intensiv mit ihren Babys beschäftigen. Neugeborene ahmen schon nach wenigen Stunden oder Tagen Gesichtsausdrücke nach, öffnen den Mund oder strecken die Zunge heraus. Zwei Monate alte Babys bemühen sich aktiv um eine gefühlsmäßige Übereinstimmung mit den Eltern. Sie lernen, ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit nach den Blicken der Erwachsenen auszurichten. In späteren Lebensmonaten imitieren sie spielerisch Laute, Gesten und Bewegungen, noch später ganze Handlungsketten.

Voraussetzung dafür sind die sogenannten Spiegelneuronen in den Gehirnen von Kindern und Erwachsenen. Diese sorgen dafür, dass wir Mimik, Gestik und Handlungen anderer Menschen in Sekundenbruchteilen intuitiv richtig einschätzen, weil unser Unterbewusstsein sie simuliert. Wir gähnen, wenn wir andere gähnen sehen. Wir lächeln, wenn wir angelächelt werden. Wir ahmen Gesten unseres Gegenübers nach. Wir trauern mit, wenn ein Freund vom Tod seiner Mutter berichtet. Kein Wunder: In unserem Kopf werden dieselben Neuronen aktiv wie in dem des anderen.

Die philosophische Schlussfolgerung daraus lautet: Das Ich besteht aus tausend Wirs. Wir sind Babuschkas, russische Puppen. In uns stecken die Blicke unserer Eltern und Großeltern, die ihrerseits die Blicke ihrer Vorfahren gespeichert haben. In uns stecken neurologische Erinnerungsspuren an alle Menschen, denen wir je begegnet sind, steckt die halbe Welt.

Führende Hirnforscher glauben, Spiegelzellen seien auch die neurologische Basis von Empathie und Moral. Der US-Neurologe Vilayanur Ramachandran nennt sie deshalb auch „Dalai-Lama-Neuronen“. Moralische Vorstellungen kann man nur dann entwickeln, wenn man sich in andere hineinversetzen kann, wenn man mitfühlt, dass sie genauso Schmerzen, Hunger und Kälte erleiden und genauso davon verschont werden möchten wie man selbst. Kant hat das in seinem kategorischen Imperativ formuliert. Einfach ausgedrückt: Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.

Diese sogenannte goldene Regel ist in allen Weltreligionen und Kulturen präsent – darauf weist auch Hans Küngs „Stiftung Weltethos“ gerne hin. „Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selbst wünscht“, heißt es in einem islamischen Hadith. „Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unangenehm ist; das ist das Wesen der Moral“, besagt ein Spruch des hinduistischen Epos Mahabharata. „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an“, hat Konfuzius schon im 4.Jahrhundert v. Chr. formuliert, und die empathische Haltung ist auch der Grundgedanke der taoistischen Lehre. Religionen können einen Rahmen für das Miteinander der Menschen und das Spiel ihrer Spiegelneuronen und Glücksstoffe schaffen. Allerdings braucht man für die Befolgung der goldenen Regel nicht wirklich einen Gott, sie funktioniert auch ohne Religion.

Fundamentalistische Religionsführer halten ihre Anhänger sogar regelrecht davon ab, mit ihren Nächsten mitzufühlen. Aufrufe zu Kreuzzügen und heiligen Kriegen sind genau das Gegenteil der goldenen Regel. Man könnte das die schwarze Regel nennen, was bislang jede Religion und Weltanschauung befallen hat: die Überzeugung, man selbst sei etwas Besseres, weil von Gott auserwählt, man habe deshalb das Recht, Andersgläubige zu missionieren oder zu töten. Wer so vorgeht, muss das empathische Spiel der Spiegelneuronen nachhaltig unterdrücken.

Im 19. Jahrhundert und während der Nazizeit geschah das durch die sogenannte schwarze Pädagogik. Sigrid Chamberlains Buch „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ zeichnet nach, welche massiven Schäden die Nazierziehung anrichtete. Säuglinge sollten vom ersten Tag an in kalten Zimmern allein gelassen und damit buchstäblich kaltgestellt werden. Überhaupt solle man sich so wenig wie möglich mit den Kindern beschäftigen und sie nur zur Nahrungsaufnahme hochnehmen. Das Wichtigste sei, ihnen so früh wie möglich peinliche Sauberkeit beizubringen. Es war ein Programm, das gestresste, gefühlsverkrüppelte, selbstmitleidige, brutalisierte Menschen produzierte: Gelobt sei, was hart macht. Ein deutscher Junge weint nicht. Er kennt keine Bedürfnisse, nur die Verleugnung von Bedürfnissen. Wer solch einer Erziehung zum Opfer fällt – und emotionale Vernachlässigung ist auch in heutigen Zeiten ein Riesenthema! –, der hat lebenslang die Folgen zu tragen. Und seine Mitmenschen auch.

Das Sehen ist bei uns Menschen der wichtigste Sinn. Wir sind Augentiere, auch unser Denken ist durch bildliche Vorstellungen geformt. Wer wem Blicke zuwerfen darf oder die Augen niederschlagen muss, wird in den verschiedenen Gesellschaften auf komplexe Weise reglementiert. Auch die Kleiderordnung spielt hier ihre Rolle: Ansehen schafft Mode und Mode schafft Ansehen. Genauso wichtig ist das Zurückgesehen-Werden, also Re-Spekt; Ehre und Prestige sind dafür nur andere Worte. Die Beschädigung von Ehre und Ansehen kann Menschen töten. Wer „sein Gesicht verloren hat“, wie es im asiatischen Raum heißt, hat nichts mehr, was angesehen werden kann, hat kein An-Sehen mehr, fühlt sich wie tot und begeht nicht selten Suizid.

Auch hinter dem allgegenwärtigen Streben nach Geld und noch mehr Geld verbirgt sich oft nur Seh(n)sucht nach Anerkennung. Nur mit Geld kann man Prestigesymbole kaufen. Renommiermobiliar. Zugang zu Wichtigkeitsmärkten und Medienlogen. Das Gespiegeltwerden in Tausenden von Augen.

In unserer Gesellschaft drehe sich alles um das knappe Gut Aufmerksamkeit, meint Georg Franck, Autor des Buches „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Um ihren bunten Schrott zu verkaufen, muss die Industrie die kostbare Aufmerksamkeit der Käufer auf ihre Waren lenken. Kostbar, weil sie so begrenzt und nur für Sekundenbruchteile zu lenken ist. Kostbar, weil die Konkurrenz der PR-Maschinerien um den entscheidenden Augen-Blick der Kunden so groß ist. Heutige Industrieländer, sagt Franck in seinem zweiten Buch „Mentaler Kapitalismus“, leben immer weniger von Fabrikproduktion und immer mehr von der Wissensindustrie, die ebenfalls wie ein gigantischer Aufmerksamkeitsmarkt funktioniert. Ein Wissenschaftler akkumuliert Aufmerksamkeit, indem er zitiert wird, Reputation entsteht durch Zitation. Die gesamte Wissenschaft dreht sich nur noch darum, wer wo wann wie veröffentlicht, und nicht selten werden fachliche Konkurrenten mit üblen Methoden daran gehindert, zuerst zu veröffentlichen. Denn nur wer viel zitiert wird, hat Chancen auf Forschungsgelder und Nobelpreise.

Francks Argumentation ist allerdings etwas zu ökonomistisch. Wissenschaftler streben vor allem nach Macht und Einfluss – andere Worte für die Fähigkeit, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Noch wichtiger als die Geldsumme beim Nobelpreis ist das internationale Prestige, die Spiegelung in den Augen von Millionen Mediennutzern. Ein Nobelpreisträger kann sich einbilden, plötzlich millionenfach zu existieren – als Erinnerungsspur in den Köpfen von Fernsehzuschauern rund um die Welt. Das mindert seine Angst vor Einsamkeit und Tod. Aber wenn er nicht zu jenen seltenen Exemplaren gehört, die seit einer glücklichen Kindheit in sich ruhen, beginnt bei ihm jener neurologische Teufelskreis, der nach einem Mehr und noch Mehr von der Droge Aufmerksamkeit verlangt – und weiteren Drogen. Doch Medien sind künstliche Augen, mediale Aufmerksamkeit kann die echte Begegnung mit Menschen niemals ersetzen. Im Gegenteil: Sie deformiert sie. Die meisten Prominenten sind eitle Narzissten, mit denen man nicht befreundet sein will.

Wie sich das bei Politikern auswirkt, schildert der Ex-„Spiegel“-Journalist Jürgen Leinemann in seinem Buch „Höhenrausch“. Leinemann beschreibt Politiker als süchtige Alcoholics, Medialcoholics, Workoholics, unersättlich nach immer neuer rauschhafter Bestätigung ihrer Wichtigkeit. Er zitiert einen früheren Bundesminister, der nach seinem Rücktritt „auf einmal richtige Lebensangst“ empfand: „Wenn du je in einer Position warst, wo eine Anregung von dir aufgegriffen und in reale Politik umgesetzt wird, dann erzeugt das einen Rausch … Das hat Magie. Du bist im Zentrum. Du bist im verbotenen Zimmer, im Tempel der Macht, weit weg von den Menschen …“

Aber vielleicht hat der vorherrschende Typus von Sucht-Politikern auch etwas mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Derzeit werden wir von einer Generation von Machthabern regiert, deren Zugang zur eigenen Psyche so verschüttet erscheint wie zu den Bombenkellern ihrer Kindheit. Als Kinder hungerten, zitterten und froren sie, sahen Tote, verspürten Todesangst. Später versuchten sie sich hinter dicken Bäuchen, dicken Autos und dicken Bankkonten gegen ihre Ängste zu schützen.

Und Robbie Williams? Nein, man muss nicht im Bombenkeller gesessen haben, um massive Lebensangst zu entwickeln. Es reicht, wenn man zu viel Erfolg hat und zu wenig echte Freunde. Die EU-Gesundheitsminister empfehlen: Nachhaltig glücklich macht nur soziales Engagement.

Ute Scheub

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