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Am Anfang steht oft Zuneigung, vielleicht ein Kuss, vielleicht mehr.

© dpa

Sexuelle Vielfalt akzeptieren: Was geht, wenn alles geht

Soll in Schulen stärker für mehr Toleranz in Liebes- und Lebensfragen geworben werden? Entsprechende Pläne der baden-württembergischen Landesregierung haben eine kontroverse Debatte entfacht. Unproblematisch sind sie wirklich nicht.

Die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg will die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ als Ziel im Bildungsplan 2015 festschreiben. Das klingt wie eine Nicht-Meldung. Sexualkundeunterricht gehört längst in alle Lehrpläne, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität. Homophobie auch auf vielen Schulhöfen ist ein ernsthaftes Problem, die Erziehung zu Integration und Toleranz zählt zu den schulischen Aufgaben. Dennoch haben die Pläne einen Sturm entfacht. Online-Petitionen pro und contra liefern sich einen Unterschriftenwettkampf, die Parteien streiten, die Kirchen machen mobil, manch böses Wort fällt (Indoktrination! Homophobie!).

Über den Kern des Problems wird freilich kaum diskutiert. Das fängt bei der begrifflichen Unschärfe an. Denn was ist sexuelle Vielfalt? Laut einer gängigen Definition sind damit alle Formen von Sexualität gemeint, die erwachsene Menschen freiwillig miteinander praktizieren. Das jedoch umfasst nicht nur schwule, lesbische, bisexuelle und transsexuelle Lebens- und Liebesarten, sondern auch Sadomasochismus, Polygamie, Polyamorie und Inzest.

Wie lässt sich das Inzestverbot begründen?

Warum muss Homosexualität akzeptiert werden, nicht aber Polygamie (sofern sie im gegenseitigen Einverständnis geschieht)? Polyamoristen etwa propagieren „offene, liebevolle, stabile sexuelle Beziehungen von mehr als zwei erwachsenen Menschen“. Was spricht dagegen? Auch das Inzestverbot lässt sich ohne Rückgriff auf tradierte Normen nur schwer begründen. Da es selbstverständlich sein sollte, dass auch behinderte Menschen ein uneingeschränktes Recht auf Sexualität haben, verbietet sich der Hinweis auf ein höheres Risiko von Erbkrankheiten.

Hinzu kommt eine mögliche Wertekollision mit der Verfassung. Ehe und Familie sind in Deutschland durch Artikel 6 des Grundgesetzes besonders geschützt. Sie genießen als Lebensform eine normative Ausnahmerolle. Das Ideal sind also Homo- und Hetero-Ehen, die auf Familie – sprich: Nachwuchs – angelegt sind. Alle anderen Lebensformen liegen zwar in der freien Selbstbestimmung jedes Einzelnen, dürften aber von verfassungspatriotisch gesinnten Lehrkräften nicht im vollen Sinne als gleichwertig mit Ehe und Familie vermittelt werden. Trägt das zu einer größeren Akzeptanz bei?

Homophobie bei Migranten

Und schließlich die interkulturelle Dimension. Migrantische Homophobie, insbesondere unter arabisch-, türkisch- und russischstämmigen Jugendlichen, ist weit ausgeprägter als die der Einheimischen. Muslimische und christlich-orthodoxe Gelehrte betrachten homosexuelle Handlungen in der Regel als Sünde. Das heißt, viele migrantische Heranwachsende würden durch ein Bildungsziel „sexuelle Vielfalt akzeptieren“ in einen tiefen Identitäts- und Wertekonflikt gestürzt: zwischen der häuslichen Moral, die sie von ihren Eltern lernen, und der schulischen Moral, die im Gegensatz dazu steht. In der Praxis heißt das, sowohl die Autorität der Eltern als auch die der Lehrer würde untergraben. Das verstärkt bei vielen Migranten das Gefühl, unter Integration werde stets nur das Überstülpen der Leitkultur und die Verleugnung kultureller Eigenständigkeit verstanden.

Sexuelle Vielfalt akzeptieren? Klingt gut. Wer genauer hinsieht, denkt noch mal darüber nach.

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