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Es soll doch nur ein Spiel sein. Das Stadion in Hannover am Tag, nach dem das Länderspiel abgesagt werden musste. Foto: dpa/Stratenschulte

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Städte im Grenzland Europa: Geopolitik der Füße

Öffentlicher Raum ist das Kostbarste, was Stadt ausmacht. Wir sollten ihn auch in Zeiten von Terror, Flüchtlingskrise und Kommerz nicht preisgeben. Ein Essay

Berlin war einmal, vor nicht allzu langer Zeit, Grenzstadt, der denkbar härtesten Grenze, deren Überschreitung als Grenzverletzung geahndet wurde. Hier wurde scharf geschossen. Berlin ist heute der Ort, an dem die Grenze fast nur noch in den Köpfen existiert, jedenfalls in den Köpfen derer, die im Schatten der Mauer aufgewachsen sind. Sie ist mehr oder weniger unsichtbar geworden, verschwunden, fast ohne Phantomschmerzen. Ein Vierteljahrhundert lang war die einst geteilte Stadt eine Art Laboratorium unter Echtzeitbedingungen für die Transformation einer großen städtischen Gesellschaft. Die Stadt hat sich bewährt als Krisenbewältigerin, als die Form, in der sich Gesellschaft neu erfindet und sich neu aufstellt.

Wie im Zeitraffer, atemberaubend schnell verwandelten sich die Städte

Was hier geschehen ist, geschah mutatis mutandis auch in anderen Städten in Europa, vor allem im mittleren und östlichen. Wer das Ende der Teilung Europas im annus mirabilis erlebt hat, ob hier oder in Prag, Warschau, Budapest oder Wien, konnte fast sicher sein, dass Europa stark ist, und dass die Städte Europas jene Pfeiler sein werden, die dem Kontinent, der das 20.Jahrhundert hinter sich gebracht hatte, zusammenhalten, ihm Halt geben würden. Es ist nicht Sentimentalität oder Nostalgie, wenn man an diesen historischen Augenblick erinnert, in dem die Menschen das ancien regime gestürzt und ihre Städte gleichsam neu in Besitz genommen haben: fast überall auf wundersam gewaltlose Weise. Wie im Zeitraffer, atemberaubend schnell verwandelten sich die Städte, wechselte die Farbe, beschleunigte sich das Tempo.
Diese glückliche Zeit der Wiederkehr der Städte als Zentren der zivilen Gesellschaft liegt hinter uns, und wir sind in eine Realität hineingestoßen, auf die Höhe einer Gegenwart katapultiert worden, von der bis vor Kurzem nur die wenigsten eine Vorstellung hatten. In einem Augenblick, da das Projekt der Niederlegung der Grenzen in Europa seiner Vollendung entgegenzugehen schien – Schengen! – ist Europa dabei, neue Grenzen und neue Grenzzäune zu errichten. An die Stelle der Fluchtbewegung aus dem Osten ist der Flüchtlingsstrom aus dem Süden getreten. Nun sind es nicht Dutzende Tote, sondern Tausende, die auf ihrer Flucht ums Leben gekommen sind. Die Richtung der Migrations- und Fluchtbewegung hat sich gedreht. Worauf die Europäer einmal stolz waren – die Aufhebung der Grenzen –, ist nun Grund für Sorge, ja Angst geworden: ausgeliefert zu sein einem naturwüchsigen Prozess, über den man die Kontrolle verloren hat. Zudem ist etwas eingetreten, worauf die Europäer nach dem vorläufigen Happy End von 1989 und der Auflösung der Blöcke in Ost und West am allerwenigsten vorbereitet waren: die Rückkehr des Krieges auf europäischen Boden – zuerst in Jugoslawien, heute in der Ukraine. Die Gewalt ist zurück auf einem Kontinent. Wir sind überrumpelt von den Ereignissen, hinterrücks, unvorbereitet, von den Frühwarnsystemen der Soziologen, Thinktanks und Geheimdienste im Stich gelassen, ratlos, und es geschieht, was in solchen Augenblicken des Kontrollverlusts geschieht: Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Panik und der Hysterie.

Europa erscheint als der rettende Fluchtpunkt

Wir haben uns in Europa, vor allem in dem Europa, das sich zur Europäischen Union zusammengeschlossen hat, daran gewöhnt, dass das Verschwinden von Grenzen und die ungehinderte Freizügigkeit, ein absolutes und nicht infrage zu stellendes Gut sind, Grenzenlosigkeit, die Abwesenheit von Grenzen als einen Endpunkt zivilisatorischer Entwicklung. Das ist mehr als verständlich in einem Kontinent der „wandernden Grenzen“, wie der große mitteleuropäische Schriftsteller Joseph Roth, der es ja wissen musste, Europa genannt hat. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte der unentwegten, in der Regel gewalttätigen Grenzverschiebungen, verbunden mit der Zerstörung von Staatlichkeit, ethnischen Säuberungen, Deportationen, Bevölkerungstransfers, Flucht und Vertreibung. Und heute, in einer Welt, in der an die 50 bis 60 Millionen Menschen gezwungenermaßen sich auf den Weg gemacht haben, erscheint Europa erst recht als der rettende Fluchtpunkt. Doch ebenso zwingend ist die Einsicht, dass ein Kontinent, und mag er noch so aufgeschlossen sein, der Wucht einer solchen Bewegung nicht standhalten kann. Es kann daher nie um die Abschaffung der Grenzen, die Herstellung einer utopischen Grenzenlosigkeit gehen, sondern allein um die Moderation, um die Etablierung von Grenzregimen, die die elementare Wucht dieser Bewegungen „irgendwie“ moderieren und kanalisieren. Die Europäer sind nicht Herren des Verfahrens, Migrations- und Fluchtbewegungen lassen sich nicht einfach per Knopfdruck abstellen. Die Rückgewinnung der Kontrolle über die Grenzen hat nichts mit Xenophobie zu tun, sondern ist eine Bedingung für den verantwortungsvollen Umgang mit den Flüchtlingen. Die Rede von der „Festung Europas“ nützt wenig, wenn sie nicht überhaupt nur eine Denunziationsformel ist. Ein Europa, das seine Grenzen nicht schützen kann und nicht schützen will, weiß gar nicht, dass es etwas zu verteidigen gibt.

Die Haltung zur Grenz- und Flüchtlingsfrage ist von Anfang an, weil es sich um eine wirklich große Herausforderung handelt, Grund- und Nährboden für Politisierung und gesellschaftliche Entzweiung geworden. Die Produktion von Feindbildern, die Mobilisierung von Ressentiments, das Schüren von Hass ist das Geschäft derer, die der Gesellschaft nichts zu bieten haben – nicht einmal denen, die sich für die Zukurzgekommenen und Beleidigten halten. An der Frage, ob sich die Europäer zu einer irgendwie abgestimmten Regelung bereit finden, wird sich entscheiden, was mit dem Kontinent geschehen wird, besonders mit dessen „hartem Kern“, der EU, die unter dem Druck der gleichzeitig zu bewältigenden Krisen auseinanderzubrechen droht. Die Europäische Union als eine Schönwetterwelt, eine Interimskonstellation, deren Zeit abgelaufen ist. Ich möchte daran noch nicht glauben und interessiere mich daher vor allem für „das Rettende“, das laut Friedrich Hölderlin eben auch wächst, wo Gefahr ist.

Die Europakarte, die jetzt gezeichnet wird, wird anders sein

Was haben die Europäer aufzubieten, um nicht in die Knie zu gehen, um nicht zu kapitulieren vor der auf sie zukommenden Last, um nicht in Panik und nicht in Hysterie zu verfallen, sondern sich in „heroischer Gelassenheit“ einzustellen auf eine Realität, die wahrscheinlich für lange Zeit der Normalzustand bleiben wird: Europa als eine starke und zugleich umkämpfte und gefährdete Zone. Europa ist mit 1989 nicht in ein bewegungsloses Posthistoire eingetreten, sondern – eher umgekehrt – erst richtig in Bewegung geraten. Die Erfolgsgeschichte nach 1989 war sekundiert von einer Geschichte des Versagens und der tödlichen Schwäche. Die Städte haben sich als kraftvolle Zentren der gesellschaftlichen Transformation erwiesen, aber nicht überall sind diese Prozesse ohne Gewalt abgelaufen. Daran zeigt sich, wie verwundbar unsere Städte sind. Städte lassen sich, anders als geschlossene Gesellschaften, nicht wirklich verteidigen. Sie leben von der Offenheit und Öffentlichkeit. Sie sind verwundbar. Das ist klar seit dem 11. September in den USA, aber auch in europäischen Metropolen, wie man sehen konnte an den Anschlägen – Bahnhof Atocha Madrid 2004, U-Bahnen und Bus am Tavistock Square London 2005, Dubrowka-Theater („Nordost“) 2002 und Metro in Moskau 2010, das Attentat in Paris 2015. Der öffentliche Raum ist das Einzigartige und Kostbarste, was die Stadt, diese Kristallisation der menschlichen Zivilisation, überhaupt ausmacht. Ihn preiszugeben und sich der Herrschaft des Schreckens zu fügen, wäre gleichbedeutend mit ihrem Ende. Die Manifestationen von Paris und anderswo waren daher wesentlich ein Zeugnis der Selbstbehauptung der europäischen Stadt.
Es bleibt also bei der gemischten Bilanz. Neben dem Wiederaufblühen, dem Boom europäischer Städte die Rückkehr des Krieges und der Gewalt. Neben den Türmen in Warschau Downtown oder in der City of London sind ganz andere Städte gewachsen: Zeltstädte, Containerstädte, Biwaks für Millionen, die sich nicht anders zu helfen wussten, als die Flucht anzutreten. Wieder werden wir wie schon am Ende des Kalten Kriegs zu Augenzeugen, wie die Karte Europas, vor allem aber die Städteachsen und die metropolitan corridors neue gezeichnet werden.
Damals – nach 1989 – rückte, was einmal entfernt und unzugänglich war, über Nacht in die nächste Nachbarschaft. Alte Verkehrsachsen wurden wieder in Betrieb genommen, Endstationen am Eisernen Vorhang wurden wieder Transitpunkte, Billigfluglinien schufen einen neuen Verkehrs- und Kommunikationsraum, der dem Tourismus, aber auch einer millionenfachen Arbeitsmigration neue Wege öffnete. Aus Rzeszow nach Malmö oder Manchester, aus Mailand nach Bratislava, aus Wien nach Odessa.

„Geopolitik der Füße“

Die Europakarte, die jetzt gezeichnet wird, wird anders sein. Sie ist bestimmt von den Fluchtrouten und Korridoren, die nicht zufällig schon in unseren alltäglichen Sprachhaushalt eingegangen sind – wenn wir sprechen von „Westbalkan“ oder „Ostbalkan“-Route. Auf dieser Karte sind nicht die politischen Entscheidungszentren eingezeichnet, sondern die Bahnhöfe – Wien Westbahnhof, Budapest Keleti Pu, München Hauptbahnhof. Bislang unscheinbare Grenzorte werden mit einem Schlag Schauplätze eines geschichtlichen Vorgangs. Überlebenswichtig werden auf einmal Bus- und Zugverbindungen, die weiterführen oder unterbrochen werden, die Reichweite von Taxifahrten, Checkpoints und das Gelände an der grünen Grenze. Aus harmlosen Grenzen werden Demarkationslinien, im einstigen Niemandsland wird Stacheldraht ausgerollt, und aus provisorischen Befestigungen werden solche auf Dauer. Wo einmal weiche Grenzen waren, entstehen jetzt harte. Kurzum: die Topographie der „wandernden Grenzen“, die „Geopolitik der Füße“ in Zeiten der Großen Wanderung, an deren Ende „arrival cities“ stehen, wie sie Douglas Saunders beschrieben hat. Was zeigt uns das? Die europäische Stadt ist nicht obsolet, wie man eine Zeitlang behauptet hat.
Die Wiedergeburt der europäischen Städte nach dem Krieg war ein großes Wunder. Es war die Wiederbegründung von Städten auf verbrannter Erde, neues Leben in entvölkerten Städten, Wiederaufbau der physischen Substanz. Was hat die europäische Stadt nicht schon alles durchgemacht, erlebt, überlebt, sich neu erfunden: Exil, Vertreibung, Völkermord, Flächenbombardements. Daraus kann man die Zuversicht schöpfen, dass sich auch jetzt die Potenziale finden, um die Krise zu meistern.

Unsere Städte werden sich bestimmt ändern, aber sie werden nur bleiben können, was sie sind, wenn sie die Prinzipien, auf denen sie beruhen, verteidigen. Die europäische Stadt wird die clashs of cultures, die auf uns zukommen, nur aushalten, wenn sie allen Sonderrechten und Sondergesetzgebungen irgendwelcher Parallelgesellschaften Widerstand leistet, wenn sie auf der Respektierung und Durchsetzung der erprobten Regeln des Zusammenlebens besteht: Öffentlichkeit, Freiheit der Meinungsäußerung, Respektierung der Gesetze. Sie muss sich den zuweilen romantischen Multikulti-Kitsch abschminken und sich auf kraftraubendes Lernen und Konfliktaustragung, die anstrengend ist, einstellen. Die Selbstbehauptung dieser Ordnung erfordert nicht nur eine funktionstüchtige Polizei, sondern kommt ohne Engagement und Zivilcourage jedes Einzelnen nicht aus – der große Analytiker des Großstadtlebens, Georg Simmel, hat den treffenden Ausdruck von der „urbanen Vigilanz“ gebraucht.
Die Zerstörung der öffentlichen Räume – sei es durch terroristische Anschläge oder totale Kommerzialisierung und Privatisierung – ist eine wirkliche Gefahr. Wir brauchen diesen Raum aber, um die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit, die in der Stadt aufeinandertrifft, auszuhalten, um die Konflikte zwischen radikal verschiedenen Erfahrungswelten austragen zu können. Die Stadt ist noch immer der wichtigste Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung und Selbsterziehung. Wir dürfen angesichts all der Sorgen und Befürchtungen die großen Ressourcen nicht vergessen, die in der Geschichte und Schönheit unserer Städte verborgen sind und die von der Kraft und Herrlichkeit, von der Intelligenz der Menschen zeugen. Was wäre Europa ohne den Zauber seiner Städte! Das ist durchaus ein Pfund, mit dem man wuchern muss – besonders in schwierigen Zeiten wie diesen, da Defaitismus und Resignation die Oberhand zu gewinnen scheinen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte. 2000 ist von das Buch „Planet der Nomaden“ erschienen, 2015 „Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen“ (Hanser). Der Essay ist der gekürzte Vortrag, den er am 8. November - vor den Ereignissen in Paris - im Allianz-Forum im Rahmen der „Berliner Konferenz“ auf Einladung der Initiative A Soul for Europe/Städte für Europa gehalten hat. Der komplette Text ist unter www.citiesforeurope.eu zu finden.

Karl Schlögel

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