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Meinung: Stille Revolution

Die Türkei hat mit der Vergangenheit gebrochen, jetzt muss sie ihre Zukunft gestalten

W enn die rund 50 Millionen Wähler in der Türkei am Sonntag zur Urne gehen, geht eine Ära zu Ende. Auf den ersten Blick sieht die Wahl zwar eher nach Kontinuität als nach Neuanfang aus: Die Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan liegt in den Umfragen mit 45 bis 50 Prozent weit vor allen anderen Parteien und dürfte auch in den kommenden vier Jahren das Kabinett stellen. Und doch ist die Wahl eine Zäsur. Die erste Phase der „stillen Revolution“, in der sich die Türkei von undemokratischen Traditionen und Gesetzen löste, ist vorbei, eine neue Phase beginnt. Und die wird mindestens genauso schwierig wie die bisherige.

Bei der Wahl vor vier Jahren ging es um Einmischungsversuche der Militärs, das islamische Kopftuch und die umstrittene Wahl eines frommen Muslims zum Staatspräsidenten. Inzwischen sind die Militärs größtenteils entmachtet, das Kopftuch ist an den Unis erlaubt, der fromme Muslim Abdullah Gül ist Staatspräsident.

In den Jahren der AKP-Regierung seit Ende 2002 durchlebte die Türkei einen schwierigen, aber gewaltlosen Umbruch und einen Eliten-Wechsel, der das Schlagwort von der „stillen Revolution“ begründete. Unter Erdogan ist eine neue, religiös-konservative und anatolisch geprägte Gesellschaftsschicht erstarkt, die den traditionellen, urban-säkularistischen Führungskadern der Republik in vielen Bereichen den Rang abläuft.

Diese politischen Erfolge und eine schnell wachsende Wirtschaft bilden das Fundament für den erwarteten Wahlsieg Erdogans. Gleichzeitig werden aber auch die Schattenseiten der AKP deutlicher. Wie bei jeder Partei, die seit fast einem Jahrzehnt unangefochten regiert, machen sich bei der AKP nun Ermüdungserscheinungen, Vetternwirtschaft und Überheblichkeit bemerkbar. Doch trotz der jüngsten Verschärfung des innenpolitischen Klimas sehen die meisten Türken keine Alternative zu Erdogan und zur AKP.

Nach der Wahl wird es in Ankara um eine neue Verfassung und damit um die Absicherung und Weiterentwicklung der demokratischen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts gehen. Kritiker befürchten, dass sich die AKP eine Verfassung schneidern wird, die ihren eigenen Interessen entspricht, aber nicht unbedingt denen des Landes.

Noch ist es nicht so weit. Um eine Verfassung im Parlament alleine durchzusetzen, braucht die Erdogan-Partei eine Zweidrittelmehrheit von mindestens 367 Sitzen. Selbst mit dem Traumergebnis von rund 47 Prozent vor vier Jahren kam die AKP nur auf 341 Mandate. Selbst eine Mehrheit von 330 Sitzen, bei der eine Verfassungsreform einem Referendum zugeleitet würde, ist für die AKP nicht ohne weiteres erreichbar.

Die AKP wird sich daher voraussichtlich mit den anderen Parteien auf einen Verfassungstext einigen müssen. In der Suche nach einem breiten Konsens liegt die große Herausforderung für die türkische Politik in den kommenden Jahren: Nach der Zerschlagung der Vormundschaft der Militärs muss das Land nun darangehen, seine Demokratie neu zu gestalten.

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