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Richard Schröder war SPD-Bundestagsabgeordneter und lehrte an der Theologischen Fakultät der HU Berlin.

© picture-alliance/ dpa

Meinung: Stolpe war wie Biedenkopf

Warum Brandenburgs Bezeichnung als „kleine DDR“ falsch ist / Von Richard Schröder

In Brandenburg ist ein Streit über die Entwicklung des Landes seit 1990, über den „Brandenburger Weg“, entbrannt. Alexander Gauland, langjähriger Herausgeber der „MAZ“, hat erklärt, dieser Brandenburger Weg sei eine Fortsetzung der vorpreußisch-brandenburgischen Politik vor 1701. Dagegen haben der ehemalige CDU-Vorsitzende Jörg Schönbohm und die jetzige CDU-Vorsitzende Saskia Ludwig für diesen Weg vor allem die DDR-Erbschaft verantwortlich gemacht. Brandenburg als „kleine DDR“, das ist ja auch geradezu zum geflügelten Wort geworden

Gaulands ansonsten beobachtungsreicher Artikel scheitert mit seiner Hauptthese schlicht an Geographie und Demographie. Ein Drittel des heutigen Brandenburg war bis 1815 sächsisch, nämlich Belzig, Baruth, Lübben, Fürstenberg, Neuzelle, Guben und alles südlich davon. Zudem ist Brandenburg wahrscheinlich stärker noch als andere Teile der DDR seit 1945 durch Fluchtbewegungen entvölkert und durch Flüchtlinge aus den verlorenen deutschen Ostgebieten bevölkert worden. Und überall in Brandenburger Plattenbauten hört man auch Sächsisch. Sachsen war nun mal der volkreichste Teil der DDR und die beruflich bedingte Mobilität war in der DDR sehr hoch. Aber ohne Generationenkontinuität gibt es auch keine Kontinuität der Ideen, Überzeugungen und Haltungen.

Die Floskel von Brandenburg als der „kleinen DDR“ ist ein Produkt West-Berliner Frontstadtnostalgie aus der Zeit der Diskussion um die Fusion beider Bundesländer. West-Berlin werde im „roten Meer versinken“, hieß es damals, als wäre man noch in den Zeiten der „Insulaner“. Da war noch nicht ganz angekommen, dass seit 1990 auch rings um Berlin das Grundgesetz gilt. Gemeint war mit „rot“ die SPD, im Osten eine oppositionelle Gründung des Herbstes ’89 ohne DDR-Vorgeschichte, wie sie die Blockparteien mit sich schleppten. Die „kleine DDR“, das war damals und ist heute Politrhetorik ohne diagnostischen Wert, auch wenn Manfred Stolpe den Tadel einmal zum Lob umgedeutet hat. Man mag das in Brandenburg vorherrschende DDR-Bild kritisieren. Es dürfte sich übrigens kaum relevant von dem in anderen östlichen Bundesländern unterscheiden. Weder Brandenburger noch Sachsen fragen bei ihrer Landesregierung nach, was sie von der DDR halten sollen. Es gibt aber jedenfalls keinerlei institutionelle Kontinuität zwischen dem Land Brandenburg und der DDR. Da bleibt es bei den fundamentalen Unterschieden zwischen Demokratie und Diktatur. Selbst diejenige Partei, die in der Rechtsnachfolge der SED steht, und der manche bestreiten, dass sie eine demokratische Partei ist, ist jedenfalls eine Partei in der Demokratie, muss nach deren Regeln agieren.

Gauland und Schönbohm streiten um Brandenburgs Bürgertum. Es sei nach 1945 vertrieben worden und diese Entbürgerlichung macht Schönbohm für Verwahrlosungserscheinungen verantwortlich. Gauland hält dagegen, ein Bürgertum habe es in Brandenburg nie gegeben und deshalb hatte in Brandenburg „zu keiner Zeit nach 1989 eine bürgerliche Alternative wie in Sachsen oder Thüringen eine Chance“. Auch diese Diskussion liegt schief. Was soll denn unter Bürgertum verstanden werden? Man muss unterscheiden. Der Bourgeois, der Besitzbürger, ist durch die verschiedenen Enteignungswellen tatsächlich in der DDR verschwunden. Wirtschaftlich selbständig waren am Ende nur noch handwerkliche Kleinbetriebe. Dagegen hat sich ein Bildungsbürgertum, das am kulturellen Leben interessiert ist und an eigener Urteilsbildung, nämlich Hoch- und Fachschulberufe, im DDR-Deutsch „Intelligenz“ genannt, durchaus erhalten und ständig neu gebildet, in den südlichen Residenzstädten (und Leipzig) vielleicht etwas kräftiger als in den Landstädten der nördlicheren Bezirke. Und schließlich der Citoyen, der seine Bürgerrechte einfordert. Er hat massenhaft die DDR verlassen, aber es kamen immer wieder neue auf, wurden mutiger und wagten schließlich sogar zu demonstrieren.

Es gab in der DDR einen anderen regionalen Unterschied. Meine Schwester war Pastorin in zwei Dörfern, einem ehemaligen Bauerndorf und einem ehemaligen Landarbeiterdorf eines Ritterguts. Inzwischen hatten beide Dörfer ihre LPG. In dem einstigen Bauerndorf sagt der Vorsitzende des Gemeindekirchenrats: Wir müssen das Kirchendach reparieren und ich weiß auch schon, wie man das Material beschaffen könnte. In dem Landarbeiterdorf sagt die Pastorin: Der Kirchturm muss repariert werden – und bekommt zur Antwort: Darum hat sich früher immer der Patron gekümmert. Mit „Bürgertum“ hat der Unterschied nichts zu tun, aber mit Knechtsgesinnung und der eines freien Menschen, der sich um seine Angelegenheiten selbst kümmert. Im Süden der DDR gab es wenig Großgrundbesitz, oder: Da war der Großgrundbesitz viel kleiner als in Brandenburg oder Mecklenburg. Soziale Verwahrlosungserscheinungen gab es in solchen Landarbeitersiedlungen deutlich häufiger als in ehemaligen Bauerndörfern.

Dass die Mehrheitsfähigkeit der SPD in Brandenburg und die Mehrheitsfähigkeit der CDU in Sachsen etwas mit hier mehr und dort weniger „Bürgertum“ zu tun habe, möchte ich bezweifeln. Was wäre aus der CDU Sachsens ohne Biedenkopf geworden? Oder wenn Stolpe 1990 CDU-Mitglied geworden wäre? Denn auf die Frage, warum er der SPD beigetreten ist, hat Stolpe einmal geantwortet: weil die mich zuerst gefragt haben. Dieselbe Antwort hat übrigens ein anderer sehr populärer ostdeutscher Ministerpräsident, Wolfgang Böhmer, auf die Frage gegeben, warum er 1990 der CDU beigetreten ist.

Wer 1990 in die Politik ging, wollte jedenfalls etwas für die Demokratie tun – fast könnte man sagen: egal in welcher Partei. Denn selbst in der PDS sind 1990 sehr viele politisch aktiv geworden, die bis dahin zwar SED-Mitglieder waren, aber keine politischen Funktionen innehatten. Obwohl Stolpe aus dem Osten und Biedenkopf aus dem Westen kam, obwohl sie konkurrierenden Parteien angehören und auch verschiedene politische Prioritäten gesetzt haben, beruhte ihr Erfolg wohl auf demselben Phänomen. Wenn Menschen Orientierungsprobleme haben, etwa weil sie sich verlaufen haben, sind sie in der Regel weder zu langen Diskussionen noch zu Experimenten bereit, sondern verlassen sich gern auf jemanden, von dem sie glauben, dass er sich auskennt. Wenn Schönbohm den „Brandenburger Weg“ als den des Konsenses und der streitfreien Entscheidung charakterisiert, dann trifft das für den „sächsischen Weg“ zu Biedenkopfs Zeiten fast ebenso zu.

Die allen ostdeutschen Bundesländern gemeinsame posttotalitäre Situation hat diese seit 1990 viel stärker geprägt als die lokalen Besonderheiten und in die Tiefe der Geschichte reichende Unterschiede.

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