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Meinung: „Stürzt mich oder stützt mich – oder ich stürze euch!“ „Vertrauensvotum“ gehört nicht in die Demokratie

Der Kanzler hat immerhin ein hohes Maß an Ehrlichkeit in die Endphase seiner Regierungszeit gebracht. Was längst alle Spatzen von den Dächern pfiffen, der Regierungschef hat es mit eigenen Worten ausgesprochen: Er konnte sich der Unterstützung seiner eigenen ursprünglichen Mehrheit nicht mehr sicher sein – und zwar für die Hauptstoßrichtung seiner Politik.

Der Kanzler hat immerhin ein hohes Maß an Ehrlichkeit in die Endphase seiner Regierungszeit gebracht. Was längst alle Spatzen von den Dächern pfiffen, der Regierungschef hat es mit eigenen Worten ausgesprochen: Er konnte sich der Unterstützung seiner eigenen ursprünglichen Mehrheit nicht mehr sicher sein – und zwar für die Hauptstoßrichtung seiner Politik.

Warum haftet aber der Prozedur immer noch der Geruch eines Schönheitsfehlers an? Wegen der missverstandenen Semantik von Vertrauen oder Misstrauen! Es tut weder der politischen Hygiene noch dem politischen Verständnis gut, wenn man diese beiden Begriffe hier allzu sehr mit personalem oder psychologischem Pathos auflädt, sozusagen im Sinne charakterlicher Ästhetik. Ich kann sehr wohl Gerhard Schröder persönlich vertrauen – und dennoch seine Politik ablehnen. Man muss ihm nicht misstrauen, bevor man denkt: Lieber einen andere Kanzler! Oder auch so: Ich kann dem Kanzler vertrauen – und gleichwohl sagen: Ich würde zwar ganz gerne von diesem Kanzler weiter regiert werden, aber dann bitte mit einer anderen Mehrheit, zum Beispiel von einer großen Koalition. (Man kann ja auch, wie es der Freitag erwiesen hat, politisch gegen den Kanzler votieren, indem man ihm das Vertrauen ausspricht.)

Die Begriffe „Vertrauensabstimmung“ oder „Misstrauensvotum“ stammen nämlich ursprünglich aus der konstitutionellen Monarchie, in der die Volksvertreter vom Herrscher einen Regierungschef vorgesetzt bekamen, den sie sich nicht aussuchen durften. Sie konnten aber immerhin, wenn sie Glück hatten, ihr natürliches Misstrauen gegenüber den Ratschlüssen des einstmals ganz absoluten Souveräns dadurch artikulieren, dass sich der von ihnen nicht Erwählte einer Vertrauensabstimmung stellen musste.

Die Begriffe Misstrauens- oder Vertrauensvotum hängen anfänglich also mit der reinen Vetoposition der Volksvertretung königlicher oder präsidialer Regimes zusammen. Die Worte sind dann in die Gegenwart tradiert worden. Doch in einer modernen parlamentarischen Demokratie sollte man eher von der Übereinstimmung in politischen Absichten reden, die zwischen Mehrheit und Regierungschef gegeben ist – oder eben nicht. Darüber hinaus kann wohl von einem „Zutrauen“ die Rede sein, etwa in diesem Sinne: „Wir sind zwar in den Zielen mit dir einverstanden, trauen dir aber nicht (mehr) zu, sie erfolgreich zu verwirklichen.“ Und schließlich, das eher schon die Ausnahme, mag dann noch die Kategorie des echten (verlorenen) Vertrauens hinzukommen, wenn ein Regierungschef als charakterlich fragwürdig erwiesen hat. Aber selbst dann kann die Mehrheit sich noch zu einem rein politischen „Vertrauensvotum“ entschließen: „Wir halten dich zwar persönlich für einen Halunken, aber keiner kann so gut wie du die von uns für richtig gehaltene Politik umsetzen.“ Derart pathosfrei betrachtet, erkennt man dann deutlicher die ineinander verwobene Konstruktion von Misstrauensvotum, Vertrauensfrage und Auflösungsantrag, die sich in dem einen hypothetischen Satz des Kanzlers an die Volksvertreter zusammenfassen lässt: „Stürzt mich oder stützt mich – oder ich stürze euch!“ Wer wollte bezweifeln, dass wir uns genau in dieser Lage befinden?

P.S.: Was nun aber den teilweise makabren Protest der grünen Abgeordneten Werner Schulz betrifft: Wenn er schon gegen eine Auflösung des Bundestages klagen will, müssten die Richter von ihm als Zulässigkeitsvoraussetzung mindestens verlangen, dass er sein Äußerstes getan hätte, diesen Prozess aufzuhalten – indem er sich nämlich doch an der Abstimmung beteiligt, indem er dem Kanzler aktiv in die Parade gefahren wäre, indem er ihm also, nur scheinbar paradox – das Vertrauen ausgesprochen hätte.

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