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Ein SWAT-Team bezieht Stellung auf der Suche nach dem 19-jährigen Dzhokhar A. Tsarnaev.

© AFP

Terror in den USA: Ein Wendepunkt

Im Zeitalter des Internets sind Anleitungen zum Bau von Bomben so leicht verfügbar wie Tipps für eine gute Ernährung. Der Terrorismus nistet im Alltag, wir müssen damit leben. Doch es gibt Ideen, wie er wirkungsvoll bekämpft werden kann.

Von Frank Jansen

Am schlimmsten sind die Bilder, die den achtjährigen Martin Richard zeigen, bevor er bei dem Anschlag in Boston starb. Die Grausamkeit und die Sinnlosigkeit des Terrorismus, wie auch immer er motiviert sein mag, manifestiert sich in diesen Tagen am härtesten im Schicksal dieses Jungen, der den Marathonläufern zusah und plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Das ist unerträglich, neben all den anderen, kaum weniger entsetzenden und anrührenden Eindrücken aus Boston. Da erscheint es fast schon zweitrangig, dass die Täter offenbar doch keine Rechtsextremisten waren, wie die Sicherheitsbehörden zunächst auch vermutet hatten, sondern wohl tschetschenische Terroristen. Was hatte Martin Richard getan, um den mörderischen Hass dieser Leute auf sich zu ziehen und sein junges Leben zu verlieren?

Die Frage zwingt sich leider im Zeitalter des Jedermann-Terrorismus immer häufiger auf. Warum ein Anders Breivik in Norwegen mehr als 70 Jugendliche erschoss, ist auch mit krankhaftem Hass auf eine multikulturelle Gesellschaft nicht wirklich zu erklären. Warum der „Nationalsozialistische Untergrund“ neun türkisch- und griechischstämmige Migranten sowie eine Polizistin regelrecht hinrichtete, bleibt trotz aller Extremismustheorien unbegreiflich. Warum der junge Kosovare Arid Uka am Frankfurter Flughafen zwei arglose US-amerikanische Soldaten abknallte, kann eine zivilisierte Gesellschaft kriminologisch deuten, ganz verstehen wird sie es nie.

Aber sie muss damit leben, dass der Terrorismus im Alltag nistet. Im Zeitalter des Internets sind Anleitungen zum Bau von Bomben so leicht verfügbar wie Tipps für eine gesunde Ernährung. Der Terror wird zum Gespenst, das nicht mehr zum Aufgeben gezwungen werden kann wie einst die RAF oder sich gar komplett vertreiben ließe. Weder durch eine gigantische Aufrüstung des Sicherheitsapparats, wie sie die USA nach 9/11 betrieben haben, noch durch brutale Repression, wie sie Russland im Kaukasus praktiziert. Deshalb ist die Frage kaum zu beantworten, was die Amerikaner nun noch tun sollten, um weiterem Terror vorzubeugen. Er wird sie dennoch wieder treffen. Wie auch Deutschland, Norwegen, den Irak, Mali, Indien und viele weitere Länder. Morgen oder in zwei Jahren oder in zehn. Al Qaida bereitet Anschläge lange vor. Der NSU mordete, sprengte und raubte fast 14 Jahre lang.

Und doch: Es gibt kein Argument, das eine resignative Haltung in Staat und Gesellschaft rechtfertigen könnte. Auch wenn der Terror mit jedem weiteren Angriff die Gewissheit erzwingt, es werde ihn ewig geben. Die Anschläge in Boston markieren aber möglicherweise einen Wendepunkt im Prozess des Nachdenkens, wie Terrorismus vorzubeugen sei.

Die klassischen Methoden haben sich erschöpft. Die USA können keine Drohnen oder CIA-Trupps nach Tschetschenien schicken, sie können auch nicht alle potenziell islamistisch oder sonst wie extremistisch militanten Bürger einsperren und nach Guantanamo verfrachten. Auch mit mehr Flugzeugträgern ist weder Al Qaida noch der „homegrown terror“ gleich welcher Art zu besiegen. Was helfen könnte, hat der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg nach dem Breivik-Schock formuliert – eine noch offenere, tolerantere Demokratie als zuvor. Man möchte hinzufügen: in Kombination mit mehr Wachsamkeit der Bürger und auch mehr Verständnis für legitime Bedürfnisse von Polizei und Nachrichtendiensten. So wird der Terrorismus schließlich doch ins Leere laufen.

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