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Meinung: Tombola der groben Worte

Die neue Politik: mit Beschimpfungen zum Sieg – der Inhalt ist Glückssache

Herbert Wehner hat es getan, Willy Brandt hat es getan, Joschka Fischer – und vor allem Franz Josef Strauß: Sie alle haben gepoltert, den politischen Gegner schon mal kräftig gerempelt, auch persönlich.

Der SPD-Politiker Wehner schmähte etwa den späteren Berliner Parlamentspräsidenten Jürgen Wohlrabe eine „Übelkrähe“. Fischer erregte sich über einen Verweis von Richard Stücklen mit dem Satz „Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch“. Das trug ihm zwei Tage Sitzungsverbot ein, er entschuldigte sich später. Wir erinnern uns gut an die Attacken. Weil es nicht der vorherrschende Ton der politischen Debatte war.

Doch was erlebt Deutschland in diesen Tagen? Der Ton wird rauer. Los ging es mit überzogenen Beschreibungen der Regierungspläne. Flächenbombardement und Steuerterror geißelte die Opposition das vermeintlich Böse. Aber inzwischen sind die Töne schrill geworden. Von allen Seiten. Und mehr und mehr persönlich verletzend.

Ein Blick auf die Woche: Sie fing damit an, dass die Opposition Franz Müntefering wegen seiner Ideen über Konsumverzicht zugunsten des Staates des Wahns zieh und ihn Amokläufer nannte. Und es ging grad so weiter. Normale politische Auseinandersetzung? Der kurzzeitige Interimsfraktionschef der SPD prügelte auf die Reformkommission ein, sie sondere Professorengeschwätz als „ejaculatio praecox“ ab. Der Kanzler schimpfte ganz fürchterlich – aber öffentlich erst einmal über die dümmlichen Sprüche der Opposition, die zu Politik gar nicht fähig sei. Angela Merkel schimpfte zurück – und beleidigte am Ende ihrer Rede kurzerhand alle SPD-Parlamentarier als „ziemlich unfähige Fraktion“. Deren Fraktionschef wiederum empfiehlt der Union wegen schwerer Hysterie den Weg zum Klaps-Doktor. Kein Ordnungsruf vom Präsidium. Alles ganz normal in der politischen Auseinandersetzung?

Der Eindruck: Jeder beschimpft jeden, setzt ihn herab – die Tombola der groben Worte. Eine Folge der Medialisierung der Politik? Schimpfen als Strategie – weil ja bis zum 2. Februar noch Wahlkampf ist? Mag sein, dass die Akteure glauben, angesichts der komplizierten Zusammenhänge mit zähen Sach-Debatten nicht punkten zu können. Da stellt sich die Frage: Warum macht sich niemand die Mühe, die schweren Themen zu übersetzen? Es mag sein, dass die Akteure meinen, wenn sie nur lange genug den politischen Gegner persönlich niedermachen, bleibt der Vorwurf der Unfähigkeit bei den Bürgern – und in zwei Bundesländern eben Wählern – hängen. Viele Politiker meinen offenbar, die Spirale der Beschimpfung jenseits von Inhalten immer weiter drehen und so den Hauptgewinn ziehen zu können: den Wahlsieg.

Aber vielleicht haben sie da etwas falsch verstanden. Am Ende dieser Woche ist es so, dass man gar nicht mehr alle Tiraden zusammenbringt. Es waren zu viele. Zurück bleibt ein unangenehmes Gefühl. Und das betrifft Koalition wie Opposition. Als sei ihnen allen das Maß verloren gegangen – der innere Kompass.

Denn, wenn stimmt, was alle sagen, dass unser Staat an einem Wendepunkt steht, was die Organisation seiner Gesellschaft und deren Zukunftssicherung angeht: Dann brauchen wir jetzt Gemeinsinn. Wir haben in Deutschland das Glück, dass jeder individuell über sein Leben entscheiden kann, jeder wenigstens versuchen kann, seinen Lebensentwurf zu verwirklichen. Aber ein Land braucht zur gemeinsamen Orientierung einen Überbau. Der steht im Moment auf der Vermisstenliste. Und: Kollektive Beschimpfung bietet keinen Halt.

Am Wochenende ist zweiter Advent. Zeit zum Nachdenken. Montag geht es wieder los. Mit Inhalten?

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