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Tschechien und die EU: Große Krise, kleines Denken

Tschechien gehört zu den Ländern, deren eigenständige politische Entwicklung erst nach 1989 möglich wurde. Das sollten westlich geprägte Europa-Politiker beachten. Gescheitert ist die tschechische EU-Präsidentschaft bislang nicht- und besserwisserische Arroganz nicht angebracht.

In der Regel sind Diplomaten Politikern in einem entscheidenden Punkt überlegen: Sie denken erst, bevor sie reden, und dann sagen sie nicht alles, was ihnen spontan einfällt. Der Tschechischen Republik im Besonderen und der Europäischen Union im Allgemeinen wünscht man im Moment weniger Sprücheklopfer und mehr Akteure, die das Geschehen vom möglichen Ende her durchdenken. Wir haben da nämlich gerade eine nicht ganz so kleine Weltwirtschafts- und Finanzkrise, die auch einige Staaten der Europäischen Union kräftig durchschüttelt. Einer dieser Staaten ist Tschechien, dessen Parlamentsmehrheit aus für Außenstehende kaum nachvollziehbaren Gründen dem Regierungschef das Vertrauen entzogen hat. Was wenig dramatisch wäre, hätte Tschechien nicht gerade die EU-Präsidentschaft inne.

Der Chef der Europäischen Sozialisten im EU-Parlament, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, keiner der Zurückhaltenden im Lande, gefiel sich dann in Straßburg darin, den ohnedies angeschlagenen tschechischen Noch-Regierungschef Mirek Topolanek als kompletten Versager darzustellen. Sein Partei- und Parlamentskollege Jo Leinen, auch ein Deutscher, sinnierte, ob man angesichts des angeblich zu erwartenden Vakuums die Präsidentschaft nicht an Frankreich und Schweden, die Vorgänger und Nachfolger im Präsidentenamt, übertragen sollte. Und um die Attacke so richtig rund zu machen, schickte Leinen gleich noch eine Drohung hinterher: Wenn die Tschechen nicht, ruck-zuck, den Lissabonner Vertrag ratifizieren würden, müsste man eben den Entzug europäischer Finanzhilfen prüfen.

Was folgt aus alledem? Zunächst einmal, dass die innenpolitische Krise in Prag überflüssig und ihr einziger Profiteur, Präsident Vaclav Klaus, ein ausgemachter EU-Hasser ist und darüber hinaus ein fundamentalistischer Vertreter jener Wirtschaftspolitik, die die Welt gerade ins Chaos gestürzt hat. Aber Tschechien gehört, wie Polen, Ungarn, Rumänien und die baltischen Staaten, zu den Ländern, deren eigenständige politische Entwicklung erst nach 1989, also mit dem Zerfall der sowjetischen Blockdominanz, möglich wurde. Dementsprechend eruptiv haben sich die innenpolitischen Auseinandersetzungen dieser Nationen in den vergangenen 20 Jahren abgespielt, waren die wirtschaftlichen Reformen zunächst radikal bis unsozial, lähmten die heftigen politischen Pendelbewegungen zwischen herber Sozialismuskritik und aufbrechender Vergangenheitsverklärung die kontinuierliche Entwicklung.

Das alles sollten westlich geprägte Europapolitiker wissen, bevor sie sich so arrogant über das Geschehen bei den neuen mitteleuropäischen EU-Mitgliedern auslassen. Die tschechische EU-Präsidentschaft ist bislang weder kaputt noch gar unwiderruflich gescheitert. Gerade deutsche, aber auch französische Europapolitiker müssen die besserwisserische Arroganz gegenüber den kleinen Mitgliedsländern der Union endlich ablegen. Der Vertrag von Lissabon ist wichtig für die Zukunft der EU, so wie es zuvor der von Nizza gewesen wäre. Aber der eine ist nicht an der Ignoranz der niederländischen oder französischen Bevölkerung gescheitert, der andere nicht an der Bockigkeit der Iren, sondern beide, weil Europa zu den Menschen hinabsteigen muss, nicht die Menschen zu Europas Thronen hinauf.

Im Moment aber braucht die EU vor allem Besonnenheit, Einigkeit und Verstand. Europa trägt nämlich gerade, wie nie zuvor, Verantwortung für die Welt.

Gerd Appenzeller

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