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Türkei: Erdogan und ein Sieg, der ausstrahlt

Das Ergebnis der türkischen Parlamentswahl ist nicht nur ein historischer Sieg für Erdogan und seine religiös-konservative Regierungspartei AKP. Es ist auch ein Zeichen für die politische Reife eines Landes, das noch vor zehn Jahren chronisch instabil und unberechenbar war.

Jeder zweite türkische Wähler stimmte am vergangenen Sonntag für die Erdogan-Partei – und doch versagte das Wahlvolk der AKP den Wunsch, mit Hilfe einer Zweidrittelmehrheit im neuen Parlament im Alleingang eine neue Verfassung für die Türkei durchzusetzen. Beides – der klare Sieg der AKP und die Absage an den verfassungspolitischen Alleingang – kann die Türkei weiter voranbringen. Und beides wird die Modellfunktion des Landes in der nach Demokratie strebenden Nahost-Region stärken.

Ein seit Jahren anhaltender Wirtschaftsaufschwung hat vielen Türken einen früher undenkbaren, wenn auch im Vergleich mit Westeuropa meist noch bescheidenen Wohlstand gebracht. Diese Leistung der AKP ist belohnt worden. Belohnt wurde auch, dass Erdogan die türkische Politik entmilitarisiert hat: Von einer politischen Rolle der Armee redet in Ankara niemand mehr. Doch bei aller Anerkennung für die Reform- und Wirtschaftspolitik der Regierung verweigerten die Wähler dem Ministerpräsidenten die gewünschte Zweidrittelmehrheit im Parlament. Das zwingt die türkische Politik dazu, Kompromisse einzugehen, wenn sie es wirklich ernst meint mit dem Projekt einer neuen, demokratischen Verfassung.

Nach dem Wahlsieg versprach Erdogan, die Einigung mit anderen Parteien zu suchen. Er habe die Botschaft des Wähler verstanden, sagte er. Schon nach seinem Wahlsieg von 2007 hatte Erdogan mehr Kompromissbereitschaft angekündigt, doch es blieb bei wohlklingenden Worten. Auch deshalb ist die Opposition nun skeptisch. Bisher schleppt die Türkei als Bewerberland der Europäischen Union und aufsteigende Regionalmacht mit Sitz in der G-20-Gruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländern eine von den Militärs nach dem letzten Putsch von 1980 verordnete Verfassung mit sich herum. Nicht nur Erdogan und die AKP, auch die meisten Türken innerhalb und außerhalb des Parlaments sind für eine Runderneuerung.

Sollte Erdogan tatsächlich den Kompromiss mit den anderen Parteien in der Verfassungsfrage suchen, wird dies aus Sicht der AKP wesentlich schwieriger, als es ein Alleingang mit Zweidrittelmehrheit gewesen wäre. Doch das Land hat eine neue Verfassung verdient. Auch im Ausland würde ein Kompromisskurs anerkannt – und zwar nicht nur in Europa, was in der Türkei nur noch wenige interessiert, sondern auch im Nahen Osten.

Die Tatsache, dass eine muslimische Republik einen fairen demokratischen Wettstreit organisieren und gleichzeitig die als übertrieben empfundenen Machtansprüche der Regierung an der Wahlurne zügeln kann, dürfte in der Region des arabischen Frühlings aufmerksam registriert werden. Ironischerweise geht Erdogan nicht zuletzt deshalb regionalpolitisch gestärkt aus der Wahl hervor, weil die Türken seine Forderung nach einer Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen haben. Die Botschaft in einer von Diktaturen geplagten Weltgegend lautet: Man braucht keine Despotie, um Stabilität und Wohlstand zu schaffen.

Nach der Wahl werden Erdogan und die AKP nun demonstrieren müssen, dass sie diese ermutigenden Signale auch in konkrete Politik umsetzen können. Eine neue politische Kultur des Kompromisses und des Ausgleichs kann in der Kurdenpolitik hilfreich sein, aber vor allem eben beim Projekt einer neuen Verfassung. Bald wird sich zeigen, ob der 57-jährige Erdogan als ein Politiker in die Geschichtsbücher eingehen wird, der seinem Land nach vielen demokratischen und wirtschaftlichen Reformen als krönenden Abschluss auch eine neue Verfassung gab. Oder als ein Mann, dem das am Ende dann doch nicht so wichtig war.

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