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Türkei: Es geht nicht allein um Geschichte

Warum sich die Türkei vehement gegen den Völkermord-Vorwurf wehrt.

Bei aller gerechtfertigten Empörung über die langjährige Tendenz in der Türkei, die Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 als kriegsbedingte Tragödie und damit gewissermaßen als Unfall schönzureden: Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann den Türken nicht durch Parlamentsbeschlüsse von außen verordnet werden.

Wenn westliche Politiker den türkischen Völkermord an den Armeniern anprangern wie jetzt die Abgeordneten im US-Repräsentantenhaus, folgen sie moralischen Maßstäben. Die Türkei soll sich ihrer Geschichte stellen. Das ist eine nachvollziehbare Haltung, doch politisch wird möglicherweise das Gegenteil vom Gewollten erreicht. Die Debatte über die Armenierfrage in der Türkei könnte abgewürgt, die Aussöhnung zwischen Türkei und Armenien auf Regierungsebene gestoppt werden.

Erst seit einigen Jahren kann in der Türkei einigermaßen frei über die Frage diskutiert werden, ob die Massaker des Jahres 1915 den ersten Völkermord der modernen Zeit darstellten oder nicht. Das mag aus westlicher Sicht zu zaghaft sein – für die Türkei ist allein das Zustandekommen der Debatte ein großer Fortschritt.

Die Armenierfrage wiederum ist für die Türkei nicht allein deshalb besonders sensibel, weil sich kein Land gerne eines Genozids bezichtigen lässt. Sondern das Thema erschüttert das seit Generationen vom Staat genährte Selbstverständnis der Türkei als Land der Guten und Aufrechten. In der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung gibt es keine dunklen Flecken.

Diese Tradition bildet eine hohe Hürde für eine ehrliche Aufarbeitung grausamer Verbrechen. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass die christlichen Armenier in der offiziellen türkischen Haltung als undankbare Untertanen des toleranten Osmanischen Reiches dargestellt werden. Weil die Armenier im Ersten Weltkrieg die anrückenden russischen Truppen unterstützten, habe die osmanische Regierung sie umsiedeln wollen, lautet das Argument für die Deportationen. Radikale türkische Nationalisten sehen die Armenier bis heute als potenzielle Agenten des feindlichen Auslands.

Umso bemerkenswerter ist, dass es in der Türkei gelungen ist, eine Diskussion über die Ereignisse von 1915 in Gang zu bringen. Diese Diskussion entstand in der türkischen Gesellschaft selbst und wurde nicht von außen vorgegeben. Das durch die EU-Reformen freier gewordene gesellschaftlichere Klima ermöglichte es der Regierung in Ankara auch, im vergangenen Jahr die Grundsatzvereinbarungen mit Armenien zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Öffnung der geschlossenen Grenze zu unterzeichnen.

In beiden Ländern war dieses Aussöhnungswerk bereits vor der Abstimmung im US-Kongress heftig umstritten. Nun dürfte es auf absehbare Zeit in den Schubladen verschwinden. Nationalisten in beiden Ländern werden weniger Grund denn je sehen, auf die jeweilige Gegenseite zuzugehen. Dagegen wird es für das Reformlager in der Türkei schwieriger, für eine Verständigung einzutreten.

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