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Fernsehproduktion anno 1953.

© dpa

TV-Geschichte: Glotzt du noch oder siehst du schon fern?

Das Zusammenwachsen von Internet und Fernsehen verändert die TV-Landschaft auf radikale Weise. Noch nie war es so einfach, mit dem Fernsehen schlauer oder dümmer zu werden. Wer jetzt noch einschaltet, was unter seinem Niveau liegt, ist selbst Schuld!

Fernsehen ist von Beginn an Konkurrenz. Am 21. Dezember 1952 startet der Deutsche Fernsehfunk (DFF) in Ost-Berlin. Vier Tage strahlt der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR) für Hannover und Köln ein reguläres Programm aus. Die Sendungen in Ost und West sind aufeinander bezogen, das Fernsehen agiert und agitiert mit im Wettkampf der Systeme.

Den ersten Modernisierungsschub gibt es im Westen: 1984 wird das duale System aus öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern begründet. Hier findet Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ statt. Und wie. Die „Tutti Frutti“-Sender von RTL bis Sat1 führen das Geschmacks- und Redakteursregime an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Zuschauererfolg und Quoten werden Leitlinien fürs Programmmachen. Das Medium wird entautorisiert – im Westen durch die neue Entscheidungsfreiheit des Publikums, im Osten durch den Abgleich von fiktionalisierter Wirklichkeit im DDR-TV und Arbeiter-und-Bauern- Staat-Realität vor der Wohnungstür. Im wiedervereinigten Fernseh-Deutschland kommt es zur Ausweitung der Programmzone. Jeder sendet gegen jeden, ARD gegen ZDF, RTL gegen Sat1. Denn das ist erreicht, 60 Jahre nach dem Start: Das Angebots- wird ein Nachfragemedium, die Macht ist mit dem Zuschauer. Er ist Akteur, Zentralfigur. Zehntausende Fernsehmitarbeiter sorgen sich um sein Wohl und zittern, wie sich der Daumen über die Fernbedienung bewegt.

Jeder Haushalt kann heute unter mehr als 80 Programmen auswählen, mit Satellitenschüsseln, Pay-TV, Internet-Fernsehen geht die Auswahl ins Unendliche. Durch die Digital-Reservoirs wie Recorder, Mediatheken, Youtube verschwindet auch der Zwang zum Einschalten der „Tagesschau“ um 20 Uhr. Das Fernsehen, mobil, überall, all inclusive, hat sich unverrückbar in die Zentralperspektive vieler Leben geschoben. Im Jahresschnitt 2011 sieht jeder Deutsche 222 Minuten täglich fern. Jetzt gilt der Satz „Ich bin mein eigener Programmdirektor“, damit auch die Ableitung: Noch nie war es so einfach, mit dem Fernsehen schlauer oder dümmer zu werden. Und wer sich selbst nicht belügen will, der gesteht, dass er vor dem Apparat die eigenen Niveaulinien gar zu gerne unterschreitet.

Fernsehen ist, was der Nutzer draus macht.

Die Behauptung, dass das Fernsehangebot immer schlechter wird, die mag für den stimmen, der zu keiner Programmexpedition bereit ist. Fernsehen ist das, was der Nutzer draus macht. Wer jeden Tag Pizza Margherita bestellt, fordert den Koch nicht heraus.

Das Dilemma der Eigenverantwortung wird noch wachsen. Fernsehprogramme werden zusehends zu Relikten der analogen Ära. Das digital getriebene Zusammenwachsen von Internetstrukturen und Rundfunkverteilwegen verändert das Fernsehen auf so radikale Weise, dass in viel weniger als 60 weiteren Jahren vom Fernsehen nur noch der Begriff übrig bleiben wird. Sender werden Programmanbieter, das lineare Einschalten wird gleichberechtigt neben dem nonlinearen Zuschauen stattfinden. Die Content-Provider, die nicht die heutigen Rundfunkanbieter sein müssen, werden sich um jeden einzelnen Kunden bemühen müssen; umgekehrt wird der Konsument immer tiefer in den Strudel seiner widerstreitenden Interessen zwischen Anspannung und Entspannung gesogen. Und wenn sich aus dem aktuellen Medium das televisionäre Ausdrucksmittel eines jeden Nutzers herausgeschält hat, gibt jeder seine Antwort auf die Frage: Glotzt du noch oder siehst du schon fern? Ausreden aufs Angebot werden affig.

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