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Meinung: Ungenutztes Wissen

Politik und Medien: Wir sind gut informiert, verstehen aber nichts Von Hans Peter Bull

Kaum jemals wird so viel Wissen gebraucht wie bei Verhandlungen über eine Regierungskoalition. Wissen – das ist mehr als Information. Was die künftigen Koalitionäre benötigen, ist profunde Kenntnis der Probleme, und um zukunftsfähige Lösungen zu vereinbaren, müssen sie die Folgen der geplanten Maßnahmen voraussehen und unliebsame Nebenfolgen ausschließen können. Haben unsere Volksvertreter diese Fähigkeiten? Bedienen sie sich des verfügbaren Wissens?

Wenn wir von unserem eigenen Wissen her schließen, fällt die Einschätzung düster aus. Sehr viele Menschen haben sehr unklare Vorstellungen vom Funktionieren unseres politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems und von dem, was mit staatlichen Mitteln erreichbar ist. Wir sind mit aktuellen Nachrichten und Kommentaren bestens versorgt, die seriösen Medien bemühen sich um die Aufhellung komplizierter Zusammenhänge. Doch ein großer Teil dieser Aufklärung kommt bei den Menschen nicht an. Wir sind so gut informiert wie nie – aber was verstehen wir noch?

Schaudernd nehmen wir die neueste Naturkatastrophe zur Kenntnis, verdrängen aber die Einsichten über Zusammenhänge zwischen Lebensgewohnheiten und Klimawandel. Terrorismus beunruhigt uns stark, aber die Erforschung seiner Ursachen ist unpopulär. Wir wollen bessere Gesundheitsfürsorge und sichere Renten, aber wir wissen nicht, wie das finanziert werden kann.

Unsere Repräsentanten, die gerade die Weichen für die Zukunft des Landes stellen, sind selbstverständlich besser informiert, kennen Hintergründe, lassen sich zuarbeiten. Hört man aber, was sie in Talkshows und auf Pressekonferenzen sagen, so kommen Zweifel auf, ob die Komplexität der Probleme wirklich allen bewusst ist. Man spricht lang und breit von den Zielen, die man verfolgt, von der „Sorge um die Menschen“, von der Notwendigkeit „der“ Reform – aber man sagt nicht, mit welchen Mitteln man die Ziele erreichen will. Einzelne Ausnahmen bestätigen die Regel.

Und was macht die Wissenschaft? Gewiss – bestimmte Politologen und bestimmte Ökonomen sind oft auf dem Bildschirm zu sehen. Aber es geschieht insgesamt zu selten, dass sich unabhängige Fachleute über die Medien in die politische Debatte einmischen.

Es fehlen verständliche Beiträge aus der Wissenschaft, die zum Beispiel vermitteln, ob und wie gesellschaftliche Vorgänge durch Gesetze „gesteuert“ werden können, welche Finanzströme zwischen welchen Gruppen durch Steuer- und Abgabenänderungen ausgelöst werden und welche Möglichkeiten zum „Bürokratieabbau“ es wirklich gibt.

Auch die Naturwissenschaft sollte sich besinnen, dass ihre Einsichten von allgemeinem Interesse und oft von politischer Bedeutung sind. Viele Wissenschaftler jedoch haben Skrupel, in politische Auseinandersetzungen einzugreifen, oder sie halten sich in vermeintlich vornehmer Distanz. Es erscheint ihnen klüger, in der Fachsprache zu kommunizieren und die Anerkennung der Fachkollegen nicht durch „populärwissenschaftliche“ Produkte zu gefährden. Aber die Wissenschaft trägt Verantwortung vor der Gesellschaft, und wer im Elfenbeinturm bleibt, überlässt das Feld denen, die keine Selbstzweifel hegen. Davon haben wir genug.

Der Autor ist Professor (em.) für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre in Hamburg. Von ihm ist vor kurzem das Buch erschienen „Absage an den Staat? Warum Deutschland besser ist als sein Ruf“ (vorwärts buch, Berlin).

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