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Meinung: Unmögliches wird später erledigt

Warum Präsident Chirac an seinem ungeliebten Regierungschef Raffarin festhält

Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hat sich entschieden – für sich selbst. Er lehnt das Rücktrittsgesuch seines Premierministers Jean-Pierre Raffarin ab und gibt ihm den Auftrag, innerhalb von 24 Stunden ein neues Kabinett zu bilden. Damit hat sich Chirac erneut als unglaublich machtbewusster Politiker erwiesen. Die katastrophale Wahlniederlage seines politischen Lagers bei den Regionalwahlen und der deutliche Wunsch der Wähler nach einem anderen Regierungschef scheinen ihn kalt zu lassen.

Vor knapp zwei Jahren präsentierte Chirac sich als strahlender Wahlsieger auf einem Balkon über dem symbolträchtigen Pariser Platz der Republik und tat vor hunderttausenden Demonstranten so, als habe er bei den Präsidentschaftswahlen einen grandiosen Sieg errungen. Die Realität allerdings war eine andere: 82 Prozent der Wähler hatten in einer Zwangslage für ihn gestimmt, um ein weiteres Hochkommen des Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Dies hätte Chirac eine Lehre sein und ihn zu einem umsichtigeren Umgang mit Frankreichs schwierigem Wahlvolk bewegen können. Nichts davon.

Die Strafe folgt prompt. Auch in seiner zweiten Amtsperiode als Präsident wird Chirac die Macht teilen müssen: in Kohabitation mit der Linken. Bis vor zwei Jahren musste er auf einen sozialistischen Ministerpräsidenten Rücksicht nehmen, Lionel Jospin. Auch das hatte Chirac letztlich sich selbst zu verdanken, weil er 1998 ohne Not die Nationalversammlung auflöste – im falschen Glauben, der Sieg bei der vorzeitigen Wahl sei seinem Lager sicher. Mit Ach und Krach regierte das Duo Chirac/Jospin bis 2002.

Der neue Feind heißt Nicolas Sarkozy. Der außerordentlich erfolgreiche und sehr beliebte Innenminister gehört zwar derselben Partei wie Chirac an. Aber schon lange macht der junge, ehrgeizige Durchgreifer deutlich, dass er bei den Präsidentsschaftswahlen 2007 dessen Sessel anstrebt. Mit ihm will Chirac nicht freiwillig kooperieren: bloß kein Konkurrent, dann lieber den „servilen Diener“ Raffarin, aus dessen Büro niemals ein Wort der Kritik am großen Staatschef verlautet.

Dass dieses Notkonzept Chiracs nicht funktionieren kann, liegt auf der Hand. Selbst Parteigetreue des Staatschefs melden Zweifel an oder zucken zumindest mit den Schultern. Frankreichs Rechte steht nach den Regionalwahlen vor einem Scherbenhaufen und ist intern heillos zerstritten. Die Liberalen kämpfen gegen die Konservativen, die Sarkozy-Befürworter intrigieren gegen die Raffarin-Anhänger. Und, als wäre dies nicht schon genug: Es fehlt an Personal, um eine wirklich neue Regierung zu bilden. Viele Chirac-Freunde sind wegen verschiedener Korruptionsaffären verbraucht, beispielsweise der Noch-Parteichef der Chirac-Partei UMP, Alain Juppé, der erst vor zwei Monaten wegen einer Parteispenden-Affäre verurteilt wurde und damit sein passives Wahlrecht verloren hat.

Zudem tut sich ein riesiges Problem auf. Wer auch immer jetzt in Frankreich Regierungschef ist, er bewegt sich auf unsicherem Terrain. Die Bevölkerung ist bereit, zu Hunderttausenden auf die Straßen zu gehen, ja einen Generalstreik auszurufen wie 1995. Die Menschen haben das Gefühl, dass die Reformen des Sozialsystems nicht ausreichend erklärt und von oben angeordnet wurden. Sie rebellieren gegen die weiteren Einschnitte im Gesundheitsbereich und bei der Privatisierung früherer Staatsbetriebe , die absehbaren Massenentlassungen, das steigende Defizit und die Kürzungen für Arbeitslose. Chirac bräuchte deshalb eine starke Persönlichkeit an der Regierungsspitze.

Ein Trost für ihn mag sein, dass die Sozialisten und ihre Verbündeten mit ihrem überwältigenden Sieg bei den Regionalwahlen auch nicht viel anzufangen wissen: kein Programm, keine neuen Führungspersönlichkeiten. In Frankreich wird derzeit alles auf später vertagt.

N 1 UND 7

Sabine Heimgärtner

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