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Meinung: Unter anderen Umständen

Eine Anthropologie des Bauches:  Wie sich Deutsche und Amerikaner unterscheiden.

Von Anna Sauerbrey

Als Schwangere sieht man die Welt mit anderen Augen, oder besser gesagt, mit dem Bauch. Dieser Perspektivwechsel ist vor allem eine Spiegelreaktion auf die Wahrnehmung von außen. Sobald der Bauch jene Grenze zwischen „hat vielleicht nur ein paar Pfund zugenommen“ zu „ist definitiv schwanger“ überschritten hat, überlagert „schwanger“ in der Hierarchie der Attribute, die Mitmenschen einem zuschreiben, alles andere. Rollen wie „Kollegin“ oder „Expertin für ...“ verlieren an Bedeutung. Der Blick klebt am Bauch, das Ding ist rund, daran gleitet so mancher Gedanke ab, und plötzlich dominiert „schwanger“ jede soziale Interaktion.

Ich will gar nicht jammern. Das meiste ist ehrliche Anteilnahme. Und Schwangere sind nun einmal rar. Wenn ich jemandem mit zwei Köpfen oder einem Testexemplar des neuen iPads begegnen würde, würde ich das sicher auch keine Sekunde vergessen können. Zudem sind Perspektivwechsel immer lehrreich. Ich hatte sogar das Glück eines doppelten Perspektivwechsels, da ich einen Teil der Schwangerschaft in Deutschland und einen Teil in den USA verbracht habe. Dadurch bin ich zu einer völlig subjektiven Bestandsaufnahme deutsch-amerikanischer Mentalitäten gekommen. Diese Bauch-Anthropologie möchte ich kurz erklären. Ich beschränke mich auch auf drei Punkte:

Erstens, Amerikaner glauben an den lieben Gott, Deutsche an den lieben Hokuspokus.

Obwohl ich Hunderte von Meilen entfernt vom berüchtigten „bible belt“ gewohnt habe, wurde ich in den USA als Schwangere beinahe täglich gesegnet. Der Obdachlose auf meinem Weg zur Arbeit verlangte dafür nicht einmal einen Dollar. Eine ältere Freundin zeichnete mir, der Agnostikerin, sogar ein Kreuz auf die Stirn und versicherte, sie werde mich in ihre Gebete einschließen.

In Deutschland hingegen ist eine der häufigsten Fragen: „Was wird sein Sternzeichen?“ Da ich aufgehört habe, Horoskope zu lesen, seit ich als Praktikantin mal selber welche schreiben musste, vermochte ich das lange nicht zu sagen. Für erstaunlich viele meiner Mitmenschen allerdings ist offenbar jetzt schon klar, was unser Kind für einen Charakter haben wird. Einmal bekam der Bauch sogar die Hand aufgelegt, „weil das Glück bringt“, und zwar von einer engen Verwandten mit naturwissenschaftlichem Bildungshintergrund. Da meine Abneigung gegen alles Übernatürliche bekannt ist, war es ein überfallartiges Handauflegen: Hand, Murmel-Murmel, Flucht.

Zweitens, Amerikaner glauben an den menschlichen Willen, Deutsche an die menschliche Biologie.

Die Brutalo-Kapitalisten in den USA kennen natürlich keinen Mutterschutz. In der Regel arbeiten Frauen bis kurz vor der Geburt. Danach nehmen sie Urlaub, der bezahlt wird, wenn sie gut mit ihrem Arbeitgeber verhandelt haben. Wer muss, der kann, ist die Devise, am Ende siegt der Wille über den Körper. Der Nachteil ist offensichtlich: Schwangere müssen auch mit zwölf Kilo extra und einem am Rande des Möglichen arbeitenden Herz-Kreislauf-System noch ran.

Der Vorteil ist: Von Frauen wird auch nicht erwartet, dass sie sich zurückziehen. In Deutschland werden schwangere Frauen nicht selten schon früh für völlig körpergesteuert und weniger leistungsfähig gehalten. Eine häufige Reaktion, wenn man ankündigt, schon einige Monate nach der Geburt in den Beruf zurückkehren zu wollen, ist: Na ja, schau mal, wie du dich dann fühlst. Die hormongesteuerte Jungmutter, so die These, ist durch unüberwindbare atavistische Bande an das Baby gekettet, sie bleibt in der Höhle, jeden anderen Wollens entkleidet.

Drittens, Amerikaner glauben an das Individuum, Deutsche an das Kollektiv.

Dieser Topos bestätigt sich auch aus der Bauchperspektive. Ein kluger Mann hat mich schon früh vor der deutschen „Schwangerschaftspolizei“ gewarnt, so dass ich mich halbwegs im Griff hatte, als mit zunehmendem Bauchumfang die Kaskade der Ratschläge und Maßregelungen zunahm. Nicht rennen. Darfst du denn Kaffee ...? Fliegen ist doch gefährlich! In der Schokolade, die Sie möchte, ist aber Alkohol. Ist die Milch in diesem Käse pasteurisiert? Du musst dich schonen, schonen, schonen. Das deutsche Baby ist schon Kollektivgut, noch bevor es auf der Welt ist und die Rente retten kann, man spürt eine gesellschaftliche Verantwortung für sein Wohlergehen – und vertraut wenig auf das Ermessensvermögen der schwangeren Frau. Kaum erwähnenswert, dass es in Amerika, dem Land, wo sich ja auch jeder bis an die Zähne bewaffnen darf, wenn ihm danach ist, niemand auf die Idee kommt, seinen Mitmenschen, schwanger oder nicht, in ihre Essgewohnheiten hineinzureden.

Welches Land kriegt also mehr Bauchpunkte – das protektionistische Deutschland oder das liberale Amerika? Wie immer ist das wohl eine Mentalitätsfrage. Und schwanger ist es sowieso überall schön.

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