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USA: Amerika ist nicht mehr, was es war

Seit Gründung der Vereinigten Staaten hatten WASPs einen ungeschriebenen Monopolanspruch auf die Führungspositionen im Staat: White Anglo-Saxon Protestants bestimmten die Geschicke der Nation. Nun wird das US-Verfassungsgericht neu besetzt. Es bahnt sich eine historische Zäsur an.

Nun ist ein Afroamerikaner Präsident. Auch am Verfassungsgericht endet eine Epoche. Justice John Paul Stevens tritt nach 35 Jahren ab. Nur zwei Oberste Richter in der Geschichte der USA haben länger gedient als er. Als Nachfolgerin hat Barack Obama Elena Kagan nominiert. Am Montag beginnen die Anhörungen im Senat. Wenn die zweite Kongresskammer ihre Ernennung bestätigt, woran derzeit niemand ernsthaft zweifelt, wird sie vom Herbst an als dritte Frau unter neun Verfassungsrichtern Recht sprechen. Kein einziger WASP wird dann mehr am Supreme Court sein. Stevens war der letzte Protestant. Sechs Katholiken und drei Juden teilen sich künftig die Macht am Obersten Gericht.

Es ist ein tiefer Einschnitt in der Gesellschaftsgeschichte Amerikas. Und eine stille Revolution auf Raten. In den Senatsanhörungen wird sie nicht zur Sprache kommen – wie auch die allmähliche Verschiebung im Verlauf mehrerer Jahrzehnte von einst neun WASPs zu Stevens als letztem Relikt nie offiziell diskutiert worden war. Es wird auch niemand Elena Kagan nach ihrer Konfession fragen. Das gehört sich nicht in den USA. In keinem Lebenslauf eines Staatsbediensteten, in keinem Bewerbungsverfahren taucht diese Information auf. Religion ist Privatsache. Und das Thematisierungsverbot ist Amerikas Rezept, um den Anschein zu wahren, dass wirklich keine Rolle spielt, was gemäß dem Anspruch des säkularen Staats keine Rolle spielen darf. Wer es wissen will, findet natürlich heraus: Elena Kagan ist Jüdin.

Ist die Konfession tatsächlich belanglos – selbst in einer hoch politisierten Institution wie dem Verfassungsgericht? So idealistisch würde Amerika sich gerne sehen.

Es ist schon wahr: Religiöse Erwägungen spielen heute eine geringere Rolle im öffentlichen Leben als vor 50 oder hundert Jahren. Als John F. Kennedy 1960 erster katholischer Präsident wurde, fragten viele Bürger, ob das nicht zu einem Loyalitätskonflikt führe. Ein gläubiger Katholik müsse sich schließlich den Anweisungen des Vatikan beugen, hieß es. Solche Einwände sind heute kaum noch vorstellbar – sofern es um die römische Kirche geht. Ein muslimischer Kandidat müsste mit misstrauischen Fragen rechnen. Für Barack Obama, der ein Christ ist, war sein zweiter Vorname Hussein im Präsidentschaftswahlkampf zeitweise ein Problem. Er hat ihn geerbt von seinem Vater, der ebenfalls Barack Hussein Obama hieß. Er stammte aus einer muslimischen Gegend Kenias, doch schon er hatte den Islam nicht mehr praktiziert.

Aus Amerikas Verfassungsgericht lassen sich Streitfragen an den Schnittstellen von Religion, Politik und Recht freilich nicht gänzlich verbannen. Ein besonders sensibler Bereich sind die Vorschriften zu Schwangerschaftsabbrüchen. Als der Supreme Court 2007 ein unter George W. Bush verabschiedetes Verbot von Spätabtreibungen in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung mit 5 zu 4 Stimmen für verfassungsgemäß erklärte, schieden sich die Geister entlang der Konfessionslinie. Alle fünf Richter, die für das Verbot stimmten, waren Katholiken; die vier anderen nicht. Reiner Zufall?

Ein Entrüstungssturm brach los, als der Chicagoer Juraprofessor Geoffrey Stone in einem Gastkommentar für die „Chicago Tribune“ die Meinung vertrat, bei dem Urteil hätten die religiösen Überzeugungen der Richter eine Rolle gespielt. Anthony Scalia, der Wortführer der konservativen Richter, nannte diese These „eine verdammte Lüge“ und schwor, die Universität von Chicago nicht mehr zu betreten, solange Stone dort lehre. Das Großartige an Amerika sei schließlich, dass „es nicht mehr die Religion ist, die uns trennt“.

Da liegt Scalia vermutlich nicht falsch. Heute gibt es andere Gräben, die in den Verfahren zur Richterernennung weit mehr trennen als die Konfession: vor allem die Gräben der Parteipolitik. Im Schnitt der letzten Jahrzehnte bekam ein Präsident, der wiedergewählt wurde, in seinen dann acht Jahren Amtszeit zwei Mal die Gelegenheit, ein neues Mitglied des Verfassungsgerichts zu ernennen. Mehr und mehr gilt das als Chance, langfristig ideologischen Einfluss auf die Entwicklung der Nation zu nehmen. Supreme Court Justices werden auf Lebenszeit ernannt und üben ihr Amt in der Regel zwei bis drei Jahrzehnte aus.

In jüngster Zeit verlangt die misstrauische Parteibasis eines Präsidenten immer nachdrücklicher, auf die weltanschauliche Verlässlichkeit bei der Auswahl der Kandidaten zu achten. In jüngeren Jahrzehnten hatten sich mehrere Richter bei richtungsweisenden Urteilen von der Partei des Präsidenten, der sie nominiert hat, entfernt.

Parallel ist freilich der öffentliche Druck gewachsen, die Veränderungen in der Gesellschaft auch in der Zusammensetzung des Obersten Gerichts abzubilden. So kam es, dass der Konservative Ronald Reagan 1981 erstmals eine Frau zur Verfassungsrichterin machte: Sandra O’Connor. Und der Republikaner George Bush senior nominierte 1991 Clarence Thomas, den derzeit einzigen Schwarzen am Supreme Court.

Wegen der langen Amtszeit der Obersten Richter vergehen allerdings Jahrzehnte, ehe die personelle Zusammensetzung am Verfassungsgericht den veränderten gesellschaftlichen Realitäten folgt. Und da jede neue Gruppe, die erstmals einen Sitz erobert hat, dieses Privileg verteidigt und bei Vakanz „ihres“ Sitzes die erneute Besetzung aus „ihrer“ Gruppe verlangt, dauert es noch länger, bis die politisch nächstwichtige Minderheit Berücksichtigung findet. Diese Dynamiken sind in der Summe auch die Erklärung, wie die WASPs nach und nach ganz aus dem Supreme Court verschwanden. Andere Kriterien waren wichtiger geworden als die Merkmale weiß plus protestantisch.

1924 wurde erstmals ein Jude Verfassungsrichter: Louis Brandeis. Das war damals so kontrovers, dass das übliche Gruppenbild der Richter nicht zustande kam. James McReynolds, ein erklärter Antisemit, verweigerte das Foto mit Brandeis. Für mehr als vier Jahrzehnte galt der Brandeis-Sitz als „jüdischer Sitz“. Erst Richard Nixon traute sich 1969, einen Nicht-Juden anstelle des ausgeschiedenen jüdischen Richters Abe Fortas zu nominieren. 25 Jahre später, als Bill Clinton nacheinander Ruth Bader Ginsburg und Stephen Breyer ernannte, die beide Juden sind, war die Frage ihrer Konfession nicht ausschlaggebend.

Den ersten Afroamerikaner, Thurgood Marshall, ernannte 1967 Lyndon B. Johnson. Auch dieser Posten galt von da an zunächst als „schwarzer Sitz“. Als er vakant wurde, wählte Bush senior erneut einen Schwarzen. Man darf gespannt sein, wann die Reihe durchbrochen und ein Nicht-Schwarzer bei Freiwerden dieses Sitzes ernannt werden darf.

Sandra O’Connor, die erste Verfassungsrichterin, legte 2006 ihr Amt nieder. Viele forderten, Bush junior solle sie durch eine Frau ersetzen. Doch er entschied sich zwei Mal für konservative katholische Männer: den heutigen Vorsitzenden des Gerichts, John Roberts, und für Samuel Alito. Allerdings wurde der Druck, eine weibliche Nachfolgerin für Sandra O’Connor zu nominieren, dadurch gemildert, dass da bereits eine weitere Frau, Ruth Bader Ginsburg, im Amt war.

Frauen sind freilich keine Minderheit. In vielen Gesellschaften bilden sie vielmehr eine knappe Mehrheit, auch in Amerika. Es dauert jedoch, bis sich ihre politische Emanzipation auch in einer gleichberechtigten Besetzung des Supreme Court niederschlägt. Für Bush junior war das Kriterium der weltanschaulichen Verlässlichkeit wichtiger, als er sich für Roberts und Alito entschied.

Barack Obama nutzte die erste Vakanz in seiner Amtszeit, um in Person von Sonia Sotomayor nicht nur die Frauenquote zu erhöhen, sondern auch den Latinos einen Sitz zu geben. Sie haben schon lange die Afroamerikaner als größte Minderheit abgelöst und sind die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe.

Bei der Auswahl von Elena Kagan, seiner zweiten Nominierung, spielen diese klassischen Überlegungen, welche religiöse, gesellschaftliche oder ethnische Gruppe zu berücksichtigen sei, keine primäre Rolle mehr. Allenfalls das Kriterium Frau hat in dieser Hinsicht weiterhin Gewicht.

Noch bedeutender ist jedoch der Wunsch nach einem möglichst problemlosen Bestätigungsverfahren. Anders gesagt: Obama möchte den Republikanern keinen Vorwand liefern, mit dem sie seine Kandidatin im Senat auflaufen lassen können. Und so wird Elena Kagan, wenn sie denn bestätigt wird, die einzige Verfassungsrichterin sein, die nicht zuvor an einem Bundesberufungsgericht gearbeitet hat. Alle ihre künftigen Kolleginnen und Kollegen wurden offiziell auch deshalb ausgewählt, weil sie Erfahrung mit der Rechtsprechung an Obergerichten hatten.

Das mag eine gute Voraussetzung sein für die spätere Arbeit am Supreme Court. Aus parteipolitischer Sicht ist es heutzutage jedoch ein Nachteil für das Ernennungsverfahren – und ganz speziell für die Bestätigung durch den Senat. Denn wer bereits Richter war, hat viele Urteile gesprochen und ausführliche schriftliche Begründungen hinterlassen. Aus Sicht einer Opposition, die dem amtierenden Präsidenten keinen glatten Erfolg gönnt und nach tatsächlichen oder vorgeschobenen Argumenten gegen dessen Kandidatin oder Kandidaten sucht, ist dieser „paper trail“ eine Fundgrube für potenzielle politische Munition.

Am 10. Mai hat Barack Obama Kagan nominiert. Sieben Wochen hatten die Republikaner Zeit, um mögliche Schwachstellen und Angriffspunkte zu erkunden. Mehrere Teams hochbezahlter Rechercheure und Rechtsanwälte sind mit dieser Aufgabe betraut. Die Demokraten haben es genauso gemacht, als es um Bushs Kandidaten ging. Ebenso sicher darf man sein, dass die Regierung Obama Elena Kagan wochen-, wenn nicht monatelang auf Herz und Nieren geprüft hat, ehe der Präsident sich entschloss, sie zu nominieren. Beide Seiten haben wenig Kontroverses gefunden – eben weil Kagan keinen „paper trail“ hinterlassen hat.

Die neue Praxis kommt einer Perversion der ursprünglichen Idee des Bestätigungsverfahrens im Senat gleich. In einer öffentlichen Anhörung sollen die Volksvertreter einen Eindruck von der Person gewinnen und dann abstimmen, ob sie geeignet sei, im Namen des Volks höchstrichterlich zu urteilen. Dafür wäre es nötig, möglichst viel über Herkunft, Prägungen und Denkweisen zu erfahren.

Doch da alles, was die Person preisgibt – oder aus anderer Quelle über sie bekannt wird – gegen sie verwendet werden kann, ist die taktische Interessenlage des Präsidenten und der auserwählten Person inzwischen gerade umgekehrt: Je weniger die Öffentlichkeit und der politische Gegner wissen, umso besser für die Aussicht auf Bestätigung im Senat.

Die wochenlangen Anhörungen im Senat gleichen für Außenstehende dem Versuch der wortreichen Aussageverweigerung. Was immer die Senatoren fragen, zum Beispiel zu umstrittenen Fragen wie der Abtreibung oder der Minderheitenförderung – im Zweifel wird die Kandidatin oder der Kandidat sagen, dass sie (oder er) nicht Auskunft geben darf. Bei klarer Äußerung zur Sache würde das, sobald eine solche Streitfrage vor das Verfassungsgericht kommt, die Vorlage für die Gegenseite bieten, einen Antrag auf Ausschluss dieses Richters wegen Voreingenommenheit zu stellen.

Im Fall von Sonia Sotomayor, der ersten von Obama ernannten Richterin, genügte eine witzig gemeinte Bemerkung, um ihr eine Voreingenommenheit in Rassenfragen anzudichten. Ihre These, dass ein moderner Staat Richter aus allen Gesellschaftsgruppen benötige, hatte sie bei öffentlichen Vorträgen gerne folgendermaßen begründet – und damals meist die Lacher auf ihrer Seite: „Ich würde hoffen, dass eine weise Latina dank des Reichtums ihrer Erfahrungen öfter (als weiße Männer) zum richtigen Urteil gelangt.“

Das Bestätigungsverfahren ist zur Farce geworden. Nicht aber die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts. Kein WASP mehr am Supreme Court – das ist zwar eine historische Zäsur. Aber nach dem Abgang des letzten Protestanten Stevens repräsentiert das Oberste Gericht die aktuelle Gesellschaftswirklichkeit der USA insgesamt besser als 1975 – damals, als er neu dazukam, bildeten acht alte weiße Männer sowie ein Schwarzer die höchste rechtliche Instanz.

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