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Verlogene Integrationsdebatte: Kein einig Land

Als am 30. August Thilo Sarrazins Buch herauskommt, läuft die Debatte darüber schon. Sie ist heftig – und verlogen. Ein Essay von Harald Martenstein darüber, was eigentlich zu bedenken wäre.

Manchmal liest man, die hier lebenden Ausländer oder die Menschen mit Migrationshintergrund müssten „unsere Werte“ teilen oder sich einer angeblich vorhandenen „Wertegemeinschaft“ anschließen. Eine seltsame Forderung – gibt es das überhaupt, eine deutsche Wertegemeinschaft? Wie oft findet man denn zwei Ur-Deutsche, die tatsächlich die gleichen Werte teilen? Der eine ist Katholik, der andere Atheist, damit geht’s schon mal los.

Was heißt „Integration“? Die Gedanken sind frei, die Lebensweise und die Werte dürfen zum Glück ebenfalls frei gewählt werden. Das eine Mädchen will als Jungfrau in die Ehe gehen, das andere gibt als Berufsziel „Pornostar“ an, erlaubt ist beides. Und dass Menschen eines bestimmten Zuschnitts ein Stadtviertel dominieren, kommt in vielen Varianten vor, es gibt Reichenviertel, Bohèmeviertel, Amüsierviertel und Ausländerviertel, wer es mag und bezahlen kann, soll hinziehen. Probleme bereiten Stadtviertel vor allem dann, wenn in ihnen das Verbrechen blüht und mafiöse Strukturen entstehen.

Das, was nicht diffus ist, das, woran man sich halten kann, sind die Gesetze und die Verfassung. Dass Ehrenmorde und Zwangsehen bei uns verboten sind, hängt nicht in erster Linie mit der Bibel oder mit spezifisch deutschen Lebensgewohnheiten zusammen. „Integriert“ ist also, wer sich an die Gesetze hält, die Menschenrechte und die wichtigsten Grundregeln des Zusammenlebens respektiert, insofern gibt es auch Ur-Deutsche, die nicht integriert sind.

Integration hat zur Voraussetzung, dass jemand einen Platz in der Gesellschaft findet, einen Job, eine Perspektive, eine Struktur. Dafür gibt es nun auch wieder Voraussetzungen, die wichtigsten sind Sprache und Ausbildung. Ist dafür der Staat zuständig? Eigentlich nicht. Der Staat stellt Schulen zur Verfügung, das stimmt. Aber dass Kinder lernen zu sprechen, und dass sie überhaupt in die Schule gehen, war immer eine Sache der Familien. Das ist vermutlich der Kern der Integrationsprobleme, die man vor allem in muslimischen Milieus beobachten kann: Die Räder greifen nicht mehr ineinander, bestimmte Familien und der Staat sind einander fremd, die Kinder integrieren sich nur noch in ein Milieu und nicht mehr in eine Gesellschaft. Der Staat muss also, um kriminelle oder islamistische Milieus auszutrocknen, in die Rechte der Familie eingreifen, etwa durch eine Kindergartenpflicht, über die diskutiert wird, und den Zwang, Deutsch zu lernen.

Die Diskussion des vergangenen Jahres wurde durch zwei Bücher ausgelöst, ein theoretisches von Thilo Sarrazin, das zu sehr mit der Biologie und den Genen argumentierte, und ein deutlich besseres von der Jugendrichterin Kirsten Heisig, besser, weil es von Erfahrung und Pragmatismus gesättigt war. Die Diskussion ist aber ziemlich verlogen geblieben. Die Integration der vom Islam geprägten Migranten ist ja keineswegs durchweg ein Desaster, im Gegenteil. Von Feridun Zaimoglu über Cem Özdemir bis Sibel Kekili gibt es genug Erfolgsgeschichten, in der Kultur, in der Politik, den Medien, überall. In der typischen Talkshow saß Sarrazin meist einer gut aussehenden, erfolgreichen Moderatorin gegenüber, die zu Recht empört darüber war, dass man sie, nur, weil sie türkische Wurzeln hat, als Expertin für Jugendgangs am Kottbusser Tor befragt. Es war so, als ob man in einer Diskussion über rechtsradikale Gewalt in Deutschland die Innenperspektive der Nazi- Szene von Gregor Gysi schildern lässt. Man hätte einen Sozialarbeiter, einen Jugendrichter oder, warum nicht, einen von Kirsten Heisigs Delinquenten einladen können, aber so mutig ist das Fernsehen dann doch nicht.

Beim Länderspiel Deutschland-Türkei im Oktober in Berlin konnte man erleben, dass Berliner Türken die türkische Mannschaft auf Deutsch anfeuern. Ist das schlimm? Dass deutsche Deutsche und türkische Deutsche oft aneinander vorbeileben, kann man bedauern, aber gesellschaftlicher Sprengstoff sieht anders aus. Ein Land aus einem Guss, eine formierte Gesellschaft, so etwas gibt es nicht mehr. Dass es an Schulen mit Muslim-Mehrheit inzwischen Deutschenfeindlichkeit gibt, ist natürlich keine Bagatelle. Da müsste man etwas tun, was die deutsche Mehrheitsgesellschaft, aus historischen Gründen, weitgehend verlernt hat: Härte zeigen.

Wenn man liest, Thilo Sarrazin habe, mit mehr als einer Million verkaufter Bücher, in diesem Jahr das „erfolgreichste Sachbuch der deutschen Geschichte“ geschrieben, dann steht wieder mal fest: Deutschland schafft sein Gedächtnis ab. Was länger zurückliegt als drei Monate, ist schon vergessen. Ein anderes provokantes Buch der deutschen Geschichte wurde weltweit viel häufiger verkauft: „Mein Kampf.“

Erinnern wir uns kurz. Wie haben die Probleme, die es heute mit der Integration von sogenannten Migranten gibt, eigentlich angefangen? Das war während des Wirtschaftswunders. Deutsche Firmen schickten Botschafter, nach Italien, nach Spanien, in die Türkei und anderswo hin, um Leute anzuwerben. Deutschland tat damals also genau das, was heute von den meisten Politikern als neue Idee angesehen und als „vernünftige, interessengeleitete Einwanderungspolitik“ gefordert wird: Es holte massenhaft Leute, die für Deutschland nützlich waren. Damals – eine andere Zeit! – brauchte man keine Computerexperten, man brauchte kräftige junge Männer, die mit Schraubenschlüsseln und Pressluftbohrern zurechtkommen.

Die Männer blieben hier, womit zu rechnen war, sie gründeten hier Familien oder holten ihre Familie nach, und in den meisten Fällen sind diese Familiengeschichten recht unspektakulär verlaufen. Wenn es mit der Integration nicht funktionierte, wenn die Familiengeschichte vom Bauerndorf über die deutsche Fabrik in die Dauerarbeitslosigkeit, in die Sprachlosigkeit oder in eine Neuköllner Straßengang führt, dann hat man es, in den meisten Fällen, nun einmal mit Muslimen zu tun. Nein, das stimmt nicht ganz. Um – bleiben wir kurz bei dem Beispiel – in der dritten oder vierten Migrantengeneration seinen sozialen Ort in einer Straßengang zu finden, genügt es nicht, ein Muslim zu sein. Es muss noch etwas dazukommen. In der Debatte, die auf Sarrazins Buchveröffentlichung folgte, sind ja oft genug die Iraner genannt worden, eine Migrantengruppe, mit der es keine statistisch auffälligen Probleme gibt, obwohl sie, wenn überhaupt, dann am ehesten zu Allah betet. Die Iraner waren, meist, Flüchtlinge mit bürgerlichem Hintergrund, Städter, gebildet, Leute, die von den religiösen Exzessen und der geistigen Enge in ihrer Heimat genug hatten.

Die Türken und Araber waren Bauern, oft Analphabeten. Sie waren Dörfler, von denen sich viele in der Fremde an ihre Religion und an ihre Familie klammerten, die sich einigelten wie in einer Wagenburg, so wie es auch christliche ungebildete Dörfler in einer vergleichbaren Situation vielleicht getan hätten. Sie waren – ein verbotenes Wort! – Angehörige der Unterschicht. In Deutschland ist aus einem Teil dieser Unterschicht ein neues Subproletariat entstanden, das auch von den türkischen und arabischen Aufsteigern verachtet wird. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman A. Mazyek, sagte dazu in einem „Zeit“-Interview: „Schichtspezifische Probleme werden islamisiert.“

Aber an die Bankenkrise erinnert man sich noch, oder? Erstaunlicherweise gibt es eine Parallele zwischen der Bankenkrise und der, wenn man so will, Migrantenkrise. Die Banken haben sich verspekuliert und erwarten, dass der Staat für ihre Verluste aufkommt. Die Gewinne werden von den Banken privatisiert, für die Verluste soll die Allgemeinheit zahlen. Bei den Migranten war es so, dass die deutsche Wirtschaft jahrzehntelang, solange ungelernte Handlangerarbeit noch gefragt war, von ihnen profitiert hat. Nun braucht man diese Art von Arbeitern immer weniger, nun werden soziale Folgekosten fällig, und auch in diesem Fall soll die Allgemeinheit dafür aufkommen. Die Firmen, die einst ihre Werber nach Anatolien geschickt haben, haben mit den Folgen ihrer damaligen Firmenpolitik ihrer Ansicht nach natürlich nichts zu tun.

Vieles wäre anders gekommen, wenn man schon vor dreißig, vierzig Jahren begriffen hätte, dass eine Generation von bildungs- und sprachlosen, chancenlosen, in einem wenig flexiblen Werte- und Traditionsdenken gefangenen Jugendlichen zu unerfreulichen Verhaltensweisen tendieren könnte. Diese Erkenntnis liegt doch eigentlich nahe. Aber in anderen Ländern war man auch nicht viel klüger und der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass Deutschland mit der Wiedervereinigung eine Aufgabe zu schultern hatte, die auch nicht von Pappe war. Aber wenn man in Deutschland ein Problem erst mal erkannt hat und sich alle darauf stürzen, dann sind wir eigentlich immer recht gut gewesen. Wir haben das Problemlöser-Gen. Deshalb besteht zur Panik kein Anlass.

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