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Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus darf sich einiges anhören ...

© dapd

Verschobene Perspektiven: Ein Zwischenruf zu Stuttgart 21

Ursula Weidenfeld über die Konjunktur einer Chiffre, die für Entfremdung, Misstrauen und Distanz steht.

Was ist Stuttgart 21? Ist damit tatsächlich noch die Riesenbaustelle in Stuttgart gemeint, von der niemand so genau weiß, ob man sie wirklich braucht oder nicht? Oder steht der Begriff schon für mehr? Stuttgart 21 ist die ideale Projektionsfläche für drohende Desaster aller Art geworden. Die umstrittene Elbbrücke in Dresden – das Stuttgart 21 des Ostens. Die möglicherweise robbenschädliche Fehmarnbeltüberquerung – das Stuttgart 21 des Nordens. Die überteuerte Renovierung der Autorennstrecke Nürburgring – das Stuttgart 21 des Kurt Beck. Und was ist der rundherum revolutionierte deutsche Fernsehpreis, der gestern Abend über die Bühne ging? Klar. Er ist das Stuttgart 21 für das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

In der Sehnsucht, für alles einen endgültigen Begriff zu finden, hat Stuttgart 21 wenigstens vorübergehend zum Reichsparteitag (wahlweise: inneren Reichsparteitag), Waterloo oder Canossa aufgeschlossen. Die umstrittene Bahnhofsbaustelle ist zu einem Symbol geworden – für etwas, wogegen der aufgeklärte Bürger protestieren muss. Stuttgart 21, das ist eine Chiffre für Entfremdung, Misstrauen und Distanz.

An dieser Stelle kann nicht beurteilt werden, ob Stuttgart 21 diese Überhöhung tatsächlich verdient. Und doch haben es die Schwaben in ihrer Strahlkraft für Deutschland in diesem Herbst bis ganz nach oben gebracht. Was ist die Spätzle-Connection gegen das aufgebrachte Bürgertum? Was die schwäbische Hausfrau gegen die Oma auf den abrissbedrohten Bäumen? Stuttgart 21 verschiebt die Perspektiven, nicht nur in Baden-Württemberg. Die Botschaft ist klar: Hier geht es nicht mehr um Bäume, Schienen und Tunnel, hier geht es um das Ganze. Der Einzelne erprobt seinen Einfluss. Wenn er es in seiner Wahrnehmung mit seiner Stimme bei Wahlen nicht mehr kann, versucht er es eben auf der Straße. Dabei spielt keine Rolle, wer tatsächlich schuld an der verfahrenen Situation ist: Politiker, die am Volk vorbeigeplant haben, oder das Volk, das diesen Planungen jahrzehntelang seelenruhig und tatenlos zugeschaut hat.

So, wie der erfolgreiche Protest gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf Anfang der achtziger Jahre ein entscheidender Wendepunkt für die Anti-Atom-Bewegung war, wird nun Stuttgart 21 von den Gegnern als historischer Moment gegen „Die da oben“ herbeigesehnt. Der Slogan in Wackersdorf hieß „Wackersdorf ist überall“. Auch Stuttgart 21 will jetzt überall zu Hause sein.

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