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Rote Karte für die Grünen?

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Grüne Politik: Verschont uns!

Auto-Feindschaft, Frauenquote, Ökostrom – die Grünen wollen uns zwangsbeglücken. Doch wir brauchen keinen Tugendstaat, sondern echten Liberalismus.

Dass die FDP aus der politischen Schmutzecke herauskommt (wozu durch die Wahl einer neuen Parteispitze der Anfang gemacht ist), wird wohltuende Folgen für die öffentliche Debatte in Deutschland haben, weit über das Schicksal des organisierten Liberalismus hinaus. Die Westerwelle-Blockade fällt jetzt weg – die Unlust, Zeiterscheinungen zu kritisieren, die auch Guido Westerwelle kritisieren würde, weil mit Westerwelle übereinzustimmen peinlich ist. So traut man sich nun eher, die Gefahr anzusprechen, dass die Bundesrepublik auf den Weg in einen bevormundenden, sanft tyrannischen Tugendstaat gerät.

Es ist eine Entwicklung, die eng mit dem Siegeszug der gegenwärtig erfolgreichsten deutschen Partei, der Grünen, zusammenhängt. Das Gegenmittel wäre tatsächlich jene politische Philosophie, die von der FDP für sich beansprucht wird, der Liberalismus. Der Gegensatz zwischen der antigrünen FDP und den antiliberalen Grünen, auf dem Westerwelle immer auf eine so krawallig-unsympathische Art herumgeritten war, ist wirklich ein Grundkonflikt der deutschen Gegenwart.

Das jüngste kuriose Beispiel für die gut gemeinte Betreuung der Bürger bietet die parteiübergreifend populäre Idee der »Restaurant-Ampel«, die den Besucher eines Speiselokals schon an der Tür mit einer grünen, gelben oder roten Plakette auf den amtlich ermittelten hygienischen Zustand der Gaststätte hinweisen soll. Solche Hilfs- und Kontrollaktionen breiten sich aus. Der Tugendstaat ist der Staat des Rauchverbots, der Frauenquote und des Antidiskriminierungsgesetzes, der Staat des beschleunigten Atomausstiegs und des verlangsamten Autofahrens, der Staat, der seine Männer durch Erziehungsmonate zu besseren Vätern und seine Stromkunden mit subventionierten Preisen zu Konsumenten erneuerbarer Energie erziehen will.

Der Tugendstaat erlässt nicht einfach Vorschriften (das tut jeder Staat), er will mit einem immer perfekteren Ensemble von steuernden Eingriffen seine Bürger moralischer, gesünder und umweltbewusster machen. Die Mittelschicht möchte er mit dem Elterngeld zur Gründung größerer Familien veranlassen, der Unterschicht gibt er Gutscheine für die Bildung und sportliche Ertüchtigung ihrer Kinder in die Hand, die sich garantiert nicht für die falsche Lebensführung der Eltern missbrauchen lassen.

Das alles ist im Einzelnen diskutabel, aber insgesamt in seiner besserwisserischen, gouvernantenhaften Tendenz beunruhigend. Diese Mentalität ist zwar kein exklusiver Besitz der Grünen. Die christdemokratische Ministerin Ursula von der Leyen, nicht zu Unrecht als Nanny der Nation charakterisiert, neigt sehr zu solchen Projekten. Die Sozialdemokratie, die dem freien Spiel der Marktkräfte misstraut, auf wirtschaftlichem Gebiet ebenso – siehe die Hoffnung auf die segensreichen Wirkungen eines flächendeckenden Mindestlohns.

Aber die Grünen, die Erfinder der Gleichstellungspolitik und der Mülltrennung, die Partei des guten Gewissens, sind doch die unerreichten Klassiker und die historisch treibende Kraft auf diesem Gebiet. Der neue baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat kürzlich in einem Interview erklärt, der herkömmliche Wachstumsbegriff sei überholt: »Wir brauchen also eine neue Größe, die Auskunft darüber gibt, ob das Wachstum auch die Wohlfahrt erhöht.«

Eine Bestimmung der Lebensqualität, des zufriedenen Bürgerbefindens, als Maßstab für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung? Ein traditioneller Linker, ein SPD-Politiker wäre mit solchen Reformfantasien wahrscheinlich vorsichtig gewesen; er hätte den Einwand fürchten müssen, dass der Sozialismus mit seinen planwirtschaftlichen Volksbeglückungsexperimenten schon einmal gescheitert sei. Doch als Grüner, zumal als bürgerlich-konservativer wie Kretschmann, kann man offenbar unbedenklich so reden.

Und was ist nun so falsch an dieser Weltverbesserung durch den Staat? Kretschmanns Beispiel zeigt es recht genau. Es mag richtig sein, dass der hergebrachte Wachstumsbegriff politisch nicht mehr viel taugt, weil zu viel energieverbrauchendes, müllproduzierendes Wachstum schädlich ist. Dann kann der Staat diese Art Wachstum bremsen, entmutigen oder verbieten. Doch ein alternatives, besseres Wirtschafts- und Lebensmodell entwerfen, eine amtlich empfohlene Wertordnung schaffen, nach der ressourcenschonende Beschaulichkeit besser ist als hektisches Geldverdienen und wahrer Fortschritt gar nicht jener Zuwachs an technischem Komfort, den die blöden Durchschnittsbürger dafür halten – das kann und darf der Staat nicht. Für die Festlegung und Erfüllung von Daseinszwecken ist er nicht zuständig, das muss er schon den Einzelnen überlassen.

Zwar gibt Kretschmann selbst seine Ungewissheit über die richtige Maßeinheit für die menschliche Wohlfahrt zu: »Ich kenne noch keine.« Aber in Wahrheit ist das eben keine Frage des »noch«, keine Sache, bei der man auf künftige bessere Einsicht und eines Tages auf demokratischen Konsens über die Prinzipien des guten Lebens hoffen könnte. Sondern Staat und Politik stoßen hier überhaupt an ihre Grenze und haben sich zurückzuhalten.

Der Liberalismus ist genau jene politische Philosophie, die das weiß. Der preußische Reformer und Goethe-Freund Wilhelm von Humboldt, einer der wenigen authentischen Liberalen der deutschen Geistesgeschichte, hat das obrigkeitliche Bestreben, »auf die Sitten und den Charakter der Nation« einzuwirken, geradezu für den unverzeihlichen Sündenfall der Politik gehalten: Der Tugendstaat ist nicht der gute, sondern der schlechte Staat. Der Liberalismus weiß, dass das Gute in der Gesellschaft in der Regel nicht durch gute Absicht und zentrale Planung entsteht, sondern durch den Wettbewerb der Ideen und Akteure. Das, nicht irgendeine bizarre Vorliebe für reiche Leute und soziale Ungleichheit, ist der gute Grund für die Marktwirtschaft: Das anonyme Wechselspiel von Angebot und Nachfrage setzt Kapital, Arbeit und Kaufkraft effizienter ein, als die klügste staatliche Behörde es könnte.

Daher muss es so misstrauisch stimmen, wenn die Politik den Solarstrom oder das Elektroauto als »Zukunftsprodukte« identifiziert und fördert – welchem Produkt die Zukunft gehört, weiß die Gegenwart nicht, schon gar kein Beamter und auch kein Parlament. Man sollte es dem Experiment der Zeit überlassen. Wie auch ein gutes Bildungswesen nicht dadurch zustande kommt, dass man die Schulen endlos reformiert, perfektioniert und neu finanziert, sondern indem Konkurrenz ermöglicht wird – zwischen den Lehrern einer Schule, zwischen den Schulen, zwischen den Ländern, zwischen dem staatlichen Schulsystem und privaten Alternativen.

Natürlich kann man es mit der Freiheit übertreiben. Dann droht das Chaos – oder der Sozialdarwinismus, das Recht des Stärkeren. Aber das ist nicht die Gefahr, in der die rasant ergrünende Bundesrepublik des Frühsommers 2011 schwebt. Ihre Gefahr ist der Tugendstaat – ein Gemeinwesen von hochmoderner, umweltverträglicher und moralisch vorbildlicher Spießigkeit.

Quelle: ZEIT-Online

Jan Ross

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