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Auf dem Zenit: Er hatte die Bundestagswahl 1972 triumphal gewonnen. Am 14. Dezember legte Willy Brandt gegenüber Bundestagspräsidentin Annemarie Renger zum zweiten Mal seinen Amtseid als Kanzler ab. Es war die große Zeit des politischen Aufbruchs. Am Mittwoch wäre Brandt 100 Jahre alt geworden.

© dpa

Von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis Angela Merkel: Die Traditionslinie hält

Am Mittwoch wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Er stand für eine Politik, die in die Zukunft blickt - eine Politik, nach der sich die Deutschen heute sehnen. Das hätte Brandt sicher gerne noch erlebt - genauso wie zu sehen, dass seine politische Denkfigur mit vollendet wird von einer christdemokratischen Frau aus dem Osten.

Es ist keine Ironie des Schicksals, dass fast auf den Tag genau zum 100. Geburtstag Willy Brandts Angela Merkel zum dritten Mal als Bundeskanzlerin vereidigt worden ist. Eher ist es zu begreifen als ernsthafter Wink, sich das anzuschauen, was Führung in einem Land bedeuten und was sie ausmachen kann, das allein nur schon mit dem Wort wegen seines politischen Unzustandes immer wieder seine Probleme hat. Doch wie gut es ausgehen kann, zeigt sich auch an der Linie von Brandt zu Merkel.

An diesem Tag wird deutlich, welchen Gewinn diese Form des Politischen bereithält. Oft ist sie in all den Jahrzehnten als Meisterschaft des Ungefähren abgetan worden, bei Brandt, aufs Neue bei Merkel; aber sie wurden dafür gewählt. Nun ist es sicher so gewesen, dass besonders Brandts Politik ins Ungefähre gewiesen hat. Das aber zwangläufig, weil Zukunft banalerweise eine Konstante aufweist: die Ungewissheit. Ohne Kompass war der Kurs nie. Brandt wollte nur anders als andere die Menschen anleiten, dorthin zu gehen, wohin sie bisher nicht wollten. Und seine Stärke lag darin, dass er sie dabei geleitete.

Brandt machte Politik, nach der sich die Deutschen heute sehnen

Niemals zuvor in der Geschichte war die Dimension der Zukunft so sehr eine reale Kategorie der Politik wie in der Gegenwart – sagte Brandt 1973. So könnte es Merkel heute sagen. Denn der Anspruch an Politiker ist unverändert. Nur ist er zugleich wegen der Geschwindigkeit des Informationsaustauschs und der Informationserlangung sehr viel härter. Heute sollen Politiker Antworten auf Fragen finden, die sich erst morgen stellen, ob in der Außen- oder Innenpolitik. Der Fortschritt seither, seit Brandt, besteht darin, dass Politik, die modellhaft über die unmittelbare Gegenwart hinausgreift, nicht mehr als Fantasterei verspottet wird. Im Gegenteil: Die Sehnsucht der Deutschen nach solcher Politik ist groß.

Das hätte Brandt sicher gerne noch erlebt. Umso mehr, als seine politische Denkfigur mit vollendet wird von einer christdemokratischen Frau aus dem Osten des auch mit seiner Hilfe wiedervereinigten Deutschlands. Brandt war vieles, aber kein Ideologe. Seine Programme belegen das. Auch er war ausweislich seiner Reden ein Vertreter der These, dass Politik nur dann den Menschen dient, wenn sie realistisch ist, „nüchtern vorausgedacht wird, weil sonst Schäden entstehen – nicht zuletzt bei den Menschen –, die nicht mehr zu beheben sind“, wie Brandt vor 40 Jahren sagte.

Reformpolitische Schwerpunkte einer Legislaturperiode, damals wie heute sind es humane Arbeitsbedingungen, Bildung, Umweltgefahren, Mitbestimmung der Menschen, dürfen nach Brandt nicht „degenerieren in einen Vollzug vorgegebener politischer Wahrheiten“. Will sagen: Sie können nicht mit Ideologie bearbeitet werden, weniger denn je, aber sehr wohl mit Werthaltungen, mehr denn je – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Waren sich je Koalitionspartner in dieser Hinsicht näher als die jetzigen?

Eine breit angelegte, offene Beurteilung gesellschaftlicher Verhältnisse ist Grundlage angemessenen Handelns: Darin waren sich auch Brandt und Helmut Schmidt, der deutsche Meister dieses Fachs, einiger, als es in der Rückschau manchem erscheinen mag. Die Traditionslinie hält, bis zu Merkel. Vielleicht war der Unterschied, dass der eine die Mitwirkung und Mitentscheidung, die Teilhabe möglichst vieler mehr wollte als der andere. Oder heute die andere. Aber es muss ja in jeder Kanzlerschaft doch noch einen Ansporn und ein großes Ziel für die Zukunft geben.

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