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Der SPD noch zumutbar?: Sarrazin ist integrationsunwillig

Am geistigen Ende seiner hobbygärtnerischen Ausflüge in die Völkerbiologie durch gesellschaftliche Fäulnisprozesse, Nettoreproduktionsraten und Kinderaufzucht steht, dass man deutsch nur sein kann, aber niemals werden. War Sarrazin je Sozialdemokrat? Ein Kommentar.

Thilo Sarrazin ist, parteipolitisch gesehen, ein Einwanderer. Anfang der siebziger Jahre bat er um Aufnahme in die SPD, eine Organisation mit Regeln und Wertvorstellungen, gewissermaßen eine Gesellschaft im Kleinen. Wie das Land, über das Sarrazin heute schreibt, hat sich auch seine Partei seither verändert. Doch gab es, hier wie dort, stets eine Art Leitkultur, eine gewisse Identität, über Schnittmengen definiert. So wie festgestellt werden kann, dass es in Deutschland Menschen gibt, die, wie Sarrazin sagt, mit Kultur und Charakter der Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun haben, so kann auch festgestellt werden, dass es in der SPD Mitglieder gibt, die mit Kultur und Charakter der Sozialdemokratie nichts zu tun haben. Die Frage ist nur, was der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft zumutbar ist, was sie tolerieren sollte, könnte, müsste – und was nicht.

Sarrazin sagt in seinem Buch wenig über die SPD, aber dort, wo er es tut, schreibt er abfällig, wie ein Außenstehender. Wie auch anders? Er steht mit seiner Haltung, mit seinen Überfremdungsszenarien, mit seiner Antisolidarität konträr zu vielem, was der Sozialdemokratie wichtig ist, wenn nicht gar heilig. Aufklärerisch kommt er daher, aber mit seiner Humanökonomie fällt er hinter die Aufklärung zurück. Den Wert eines Menschen bemisst der Bundesbanker in Euro, auch als Sozialdemokrat. Wer die Kultur der Mehrheitsgesellschaft ablehnt, verursacht mehr Kosten als er einbringt, sagt Sarrazin. Folglich müsse abgelehnt werden, wer so ist, und wer schon drin ist, müsse „auswachsen“. Die biologische Lösung also. Nach dieser Logik müsste Sarrazin seinen Ausschluss aus der SPD begrüßen, zumindest aber sein „Auswachsen“, denn er zeigt sich integrationsunwillig, er kostet seine Partei Anstrengung und Reputation, er bringt ihr nichts ein als Ärger – er schadet ihr. Aber seine Partei teilt diese Logik ja eigentlich nicht.

Der Lebensabschnittspolitiker Sarrazin behauptet, er habe nie den Anspruch erhoben, Tabus zu brechen; und doch durchzieht sein Buch genau dies: die Anmaßung, er spreche aus, was in Deutschland vernebelt und verneint werde, was ohne Risiko für das eigene Ansehen nicht gesagt werden dürfe. Kaum jemand wird behaupten, dass die Politik in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren auf die demografischen Entwicklungen, die Sarrazin beschreibt, ausreichend reagiert hat. Aber sie hat reagiert, vor dem Hintergrund eines Erkenntnisprozesses, in dem Tabus längst gefallen sind. Die Asylpolitik Anfang der neunziger Jahre, das Zuwanderungsgesetz zehn Jahre später, die Agenda 2010, lokale und regionale Initiativen – das alles ist politisches Handeln, das auf Erkenntnissen beruht, die jetzt auch Sarrazin beschreibt. Kein Zweifel, dass da noch viel zu tun ist, auch schneller. Aber Sarrazin erweckt den Eindruck, die Politik könne quasi einen Schalter umlegen, wenn sie denn nur wolle, und alles wäre gut. Doch das ist bestenfalls naiv und schlimmstenfalls demagogisch.

Ironisch sagt Sarrazin, er wäre nobelpreisverdächtig, wenn er in dieser Debatte einen neuen Beitrag geleistet hätte. Doch da unterschätzt er sich zur Abwechslung mal. Neu in dieser Debatte, jedenfalls soweit sie in den vergangenen Jahrzehnten politisch ernst geführt wurde, ist Sarrazins Nationalverständnis. Am geistigen Ende seiner hobbygärtnerischen Ausflüge in die Völkerbiologie durch gesellschaftliche Fäulnisprozesse, Nettoreproduktionsraten und Kinderaufzucht steht, dass man deutsch nur sein kann, aber niemals werden.

War Sarrazin jemals Sozialdemokrat?

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