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Meinung: Was soll die ewige Leier vom Wirtschaftswachstum?

„Ein Zwischenruf zu Gefühl und Politik. Über den Windchillfaktor, von dem sich die Parteien leiten lassen“ vom 9.

„Ein Zwischenruf zu Gefühl und Politik. Über den Windchillfaktor, von dem sich die Parteien leiten

lassen“ vom 9. Juni

Frau Weidenfeld, von welcher statistischen Warte aus chillen Sie denn? Dass die „Gleichheit seit 2005 gestiegen“ sei, behauptet ja nicht mal der verharmloste „Armutsbericht“ der Regierung. Wer kriegt denn noch die Tariflöhne, die nach 30 Jahren Sinkflug hier und da ein bisschen gestiegen sind? Und was ändert es, wenn in der „Krise“ paar steuerflüchtige Milliardäre paar Millionen verloren haben?

Dass die richtige Altersarmut erst für die jetzigen Niedriglohnjobber kommt, ändert nichts daran, dass schon heute erschreckend viele „anständig“ gekleidete ältere Damen und Herren die Abfalleimer nach Pfandflaschen durchwühlen. Und dass weniger Leute als gedacht bezahlbare Wohnungen suchen, tut offensichtlich der „Gentrifizierung“ und den zunehmenden Zwangsräumungen keinen Abbruch. Was soll da die ewige Leier vom „Wirtschaftswachstum“?

Das ist ja eben „Wirtschaftswachstum“: Tarifausstiege, Niedriglohnsektoren, Massenentlassungen, Kürzung von Sozialausgaben und Renten, Steuerflucht, „Gentrifizierung“, Umverteilung von unten nach oben – all das lässt den Dax steigen. Cui bono?

Peter Stebel, Berlin-Friedrichshain

Sehr geehrter Herr Stebel,

ich habe mich in meinem Kommentar mit der Frage beschäftigt, ob die gefühlte Wirklichkeit oder die objektive Wirklichkeit Maßstab politischen Handelns sein sollten – und habe die Fragen nach Gleichheit, Wohnungsnot und Altersarmut als Beispiele dafür benutzt. Natürlich haben Sie recht, wenn Sie die gefühlte Wirklichkeit als wichtigen Wert für die Lebensqualität und das gesellschaftliche Klima in einem Land begreifen. Das hat schon der Philosoph Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ beschrieben. Die Wirklichkeit hängt also entscheidend von der Wahrnehmung ab. Der Wahrnehmung schadet es allerdings gar nichts, wenn man sie mittels „Chillen in der Statistik“ bildet, oder?

Nun aber zu Ihren konkreten Anmerkungen. Es ist in der Tat so, dass die Ungleichheit seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts in Deutschland nicht weiter gestiegen ist, in Westdeutschland sogar zurückging. Das stellt nicht nur das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln fest, sondern auch das in dieser Hinsicht vielleicht unverdächtigere Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Das hat viele Gründe: vor allem die hervorragende Lage auf dem Arbeitsmarkt, die gute Konjunktur und eben auch die Vermögensvernichtung durch die Finanzkrise. Allerdings ist natürlich auch zu bemerken, dass die Realeinkommen der Arbeitnehmer wie auch die Renten erst mit Verzögerung gestiegen sind, was erklärt, warum die Wahrnehmung immer noch eine andere ist. Für Lohnempfänger waren die ersten Jahre nach der Jahrtausendwende in der Tat ziemlich deprimierend, sie holen erst jetzt auf.

Die Gentrifizierung schließlich ist ein Phänomen bestimmter Großstadtregionen, aber keineswegs ein flächendeckendes Problem. Es gibt selbst in Berlin Stadtviertel-Reinickendorf, Spandau, Marienfelde zum Beispiel – in denen weder Gentrifizierung noch Wohnungsnot herrschen. Vor dem Hintergrund stellt sich doch die Frage, ob jeder das Recht hat, eine Wohnung in Prenzlauer Berg zu finden. Oder ist es wichtig, dass jeder in Berlin eine bezahlbare Wohnung bekommen kann, wenn er bereit ist, außerhalb der angesagten Stadtviertel zu wohnen. Die erste Frage würde man verneinen, die zweite wahrscheinlich bejahen. Gibt es aber einen objektiven Handlungsbedarf, wenn es nur um eine Verbraucherpräferenz, nicht aber um „echte“ Not geht? Ich meine, nein. Für das Thema Altersarmut gilt Ähnliches. Noch ist das Rentenniveau für die meisten Rentner ausreichend, noch bekommen die meisten Frauen, die in ihrem Leben nicht gearbeitet haben, eine Witwenrente. Das ändert sich nach und nach. Deshalb ist die Altersarmut im Wesentlichen ein Zukunfts- und kein Gegenwartsproblem. Natürlich gibt es auch heute Menschen, die arm sind, und zwar in jeder Generation. Schlimmer noch: Wer heute materiell benachteiligt ist, wird das im Alter nicht mehr ändern können, im Gegenteil. Er wird im Alter in der Regel mit noch weniger dastehen. Das ist eine bittere Erkenntnis, die eine Gesellschaft nicht hinnehmen muss. Dennoch: Nur, wenn am Ende ein gemeinsames Verständnis entsteht, welcher Art der Armut man durch Finanzspritzen begegnen möchte, kann es auch tatsächlich zu einer Verständigung darüber kommen, wer dafür aufzukommen hat. Zum Beispiel muss man dann bereit sein, den Jüngeren zu erklären, warum die Allgemeinheit Senioren mehr als das Existenzminimum zugestehen will. Man muss die Zustimmung der jungen Generation erhalten, dass sie in wenigen Jahren nicht nur die vielen alten Rentner ernährt, sondern noch einen Extrabetrag gegen die Altersarmut drauflegt. Wenn die Jungen dann (wahrscheinlich) anders fühlen als

die Alten, könnte ein Blick in die Statistik hilfreich sein, um die Gemüter zu beruhigen und vielleicht die echten Problemlagen

zu entdecken.

Dazu muss man allerdings zunächst einmal bereit sein, sein Gefühl auf seinen Realitätsgehalt zu prüfen. Denn wahrscheinlich chillt es sich aus der subjektiven Perspektive mindestens ebenso gefährlich wie aus einer rein

objektiven.

— Dr. Ursula Weidenfeld ist Journalistin und lebt in Potsdam.

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