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Meinung: Was wir den Opfern schuldig sind Am Jahrestag des Kriegsbeginns ist Europa im Gedenken geteilt

Geschichtsbilder wandeln sich mit dem Wandel der Geschichte. Doch nicht immer parallel, sondern manchmal gegenläufig.

Geschichtsbilder wandeln sich mit dem Wandel der Geschichte. Doch nicht immer parallel, sondern manchmal gegenläufig. Heute ist der Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann – der zu Europas Teilung führte. Es ist der letzte 1. September vor der Ost-Erweiterung der EU, die Europa wiedervereint. Das könnte Anlass für einen versöhnlichen Rückblick sein. Aber ausgerechnet in diesem Jahr liegt neues Misstrauen über dem Tag. In Polen ist der Vorwurf zu hören, das Volk der Täter versuche, die Historie umzudeuten und die Deutschen zu einem Volk der Opfer zu machen. Nicht nur Nationalkonservative hegen diesen Argwohn, auch Politiker und Intellektuelle, die den Dialog mit Deutschland vorangetrieben haben. Viele Tschechen denken ähnlich, nur kann man das kaum nachlesen; sie haben genug vom langen Streit um die Benes-Dekrete und ducken sich weg.

Auslöser ist das in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen. Nach polnischer Lesart will dort der Bund der Vertriebenen das deutsche Leid ohne die historische Vorgeschichte darstellen. Das Zentrum ist jedoch nicht die einzige Ursache. Stirnrunzeln lösten zuvor die neuen Bücher über den Bombenkrieg, den Untergang des Flüchtlingsschiffs „Wilhelm Gustloff“, Flucht und Vertreibung aus. Warum, so rumort es bei den Nachbarn, thematisieren die Deutschen so auffällig ihr Leid – und das ihnen angetane Unrecht?

Wer genau hinschaut, merkt, wie verkürzt die Nachbarn die deutsche Debatte wahrnehmen; selbst Deutschland-Experten kennen die tatsächlichen Pläne für das Zentrum nicht. Dass der BdV dort keineswegs nur die Vertreibung der Deutschen darstellen will, sondern – der Plural ist schon im Namen enthalten – die Vertreibungen in Europa im 20. Jahrhundert, auch die der Tschechen und Polen zu Beginn des Kriegs, nicht zu vergessen das Schicksal der Armenier und, in den 90er Jahren, der Balkanvölker; dass polnische und tschechische Historiker mitwirken: Es wird nicht wahrgenommen.

Ähnlich war es zuvor, wenn die Sprache auf Bombenkrieg, Flucht oder die Probleme deutschstämmiger Minderheiten in Ost- und Mitteleuropa kam: Den Nachbarn ist nicht bewusst, dass die Deutschen solche Themen lange aus der öffentlichen Debatte verbannt, sie auf unnatürliche Weise tabuisiert hatten und alle, die daran rüttelten, in die rechte, die revanchistische Ecke stellten.

Auch für die Nachbarn war es bequemer so: Die Deutschen waren die Täter. Und wenn einige Opfer waren, dann waren eben auch sie Opfer Hitlers. Muss man das denn genauer wissen, wer da die Täter waren – im Bombenkrieg, bei der Vertreibung –, es sei denn, dahinter steht das Ziel, Schuld und Moral neu zu verteilen? Dass man es den Opfern schuldig ist, ihr Leid anzuerkennen, dieser Gedanke wird noch nicht allgemein akzeptiert.

Europa findet sich neu zusammen. Und es ist offenbar eine Last, dass die Arbeit an wahrhaftigen Geschichtsbildern damit nicht endet, sondern in eine neue Phase tritt.

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