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Meinung: Was wir vergessen, das war nicht

Auch in der DDR gab’s Alltag, aber der war nicht entscheidend Von Klaus Schroeder

In einer kürzlich von uns durchgeführten Befragung von über 2000 Berliner Schülern lehnten knapp zwei Drittel die Aussage ab, in der DDR war der Alltag für viele durch Diktatur und Überwachung geprägt. Etwa gleich viele stimmten zumindest teilweise der Feststellung zu, die Regierung der DDR war durch demokratische Wahlen legitimiert. Nur etwa jeder Zweite verneinte den Satz „Die DDR war keine Diktatur – die Menschen mussten sich nur wie überall anpassen“. In der vergleichenden Bewertung von alter Bundesrepublik und DDR konnte sich ebenfalls jeder Zweite mit der These anfreunden, die Bundesrepublik sei anders, aber nicht besser als die DDR gewesen.

Betrachtet man aktuelle Bücher und Filme über die DDR, lässt sich unschwer eine Dominanz alltagsgeprägter Beschreibungen feststellen. Junge Frauen erzählen über ihre spannende oder langweilige Kindheit in der DDR, abgewickelte Politiker und Wissenschaftler rücken ihre sozialistischen Ideale und die Normalität des Alltags ins Blickfeld, Feinschmecker berichten über die Vielfalt der Küche in der DDR, und selbst der ehemalige stellvertretende Minister für Staatssicherheit, Markus Wolf, darf seine Ansichten über die humanistische DDR in Talkshows verbreiten. Ganz zu schweigen vom ehemaligen Vorsitzenden des Rechtsanwaltskollegiums der DDR, Gregor Gysi, der in den Medien nahezu omnipräsent ist.

Wie vor diesem Hintergrund die noch von der rot-grünen Koalition eingesetzte Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ zur Diagnose einer „gegenwärtigen Vorrangstellung der öffentlichen Dokumentation staatlicher Repression“ kommt, erschließt erst der Blick in die Vorgeschichte. Schon seit Jahren versuchen linke Historiker und Politiker, die von einem Bürgerrechtlerverein betriebene ehemalige Mielke-Zentrale in der Normannenstraße durch den Einbezug in die Birthler-Behörde ihres weitgehend autonomen Charakters zu berauben. Und auch die Gedenkstätte im ehemaligen MfS-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen sollte inhaltlich und personell anders ausgerichtet werden.

Nachdem diese Versuche scheiterten, wurde zur Legitimation des Plans, diese authentischen Orte zu entschärfen, eine Kommission eingesetzt. Um ihr Ergebnis nicht politisch, sondern wissenschaftlich begründen zu können, musste sie notwendigerweise eine falsche Diagnose stellen.

Die tatsächlichen Defizite bei der Darstellung und Einordnung der DDR – bezüglich der Rolle der SED bei der Gestaltung der Gesellschaft und ihrer generellen Vorrangstellung sowie vor allem der vergleichenden Bewertung der DDR – werden von der Kommission nicht oder nur am Rande angesprochen. Gleichzeitig scheuen die Autoren davor zurück, Kriterien für die Einordnung der DDR zu nennen. Anscheinend soll sie im Geiste der alten systemimmanenten DDR-Forschung wertneutral beschrieben und auf Augenhöhe mit der alten Bundesrepublik gestellt werden, so dass hinter dieser Äquidistanz die Differenz zwischen Demokratie und Diktatur verschwindet.

Die Weichzeichnung der SED-Diktatur wird im Papier der Expertenkommission durch den für die DDR gewählten Begriff „durchherrschte Gesellschaft“ deutlich. Da alle Gesellschaften mehr oder weniger „durchherrscht“ sind, die einen stärker politisch, die anderen ökonomisch, werden Analogien zwischen Bundesrepublik und DDR konstruiert. Der entscheidende Unterschied zwischen der durch eine Mehrheit legitimierten und einer auf Gewalt(-androhung) und Ideologie begründeten Herrschaft geht dabei verloren.

Diese begriffliche Vorgabe reduziert die geforderten Analysen auf bloße Beschreibungen von Banalitäten. Erst wenn die DDR wie andere sowjetkommunistische Staaten im Sinne von Agnes Heller als totalitär verfasste politische Gesellschaft verstanden wird, in der die Herrschenden eine „Diktatur über die Bedürfnisse“ sowie die Ausschaltung von Pluralismus und Individualismus anstrebten, werden auch die Widersprüche zwischen Machtmechanismen und dem Willen nach Freiheit und Wohlstand von großen Teilen der Bevölkerung sichtbar. Genau an diesem Widerspruch ist die DDR gescheitert und der SED-Staat untergegangen.

Die von der Kommission unterbreiteten Vorschläge, neue Schwerpunkte auf Basis des Vorhandenen zu bilden, können nicht überzeugen. Wichtiger wäre es, vergleichende Studien, zum Beispiel zwischen NS-Staat, DDR und Bundesrepublik anzuregen und die Grundlagen einer freiheitlichen und zivilen Gesellschaft als Bewertungsmaßstab zu vermitteln. Dabei sollte der Ausbau von einschlägiger Forschung und Lehre in den Universitäten im Vordergrund stehen und nicht die Schaffung neuer außeruniversitärer Einrichtungen. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, den Universitäten in einem Sonderprogramm Mittel für spezielle Lehrveranstaltungen über die DDR und das geteilte Deutschland zur Verfügung zu stellen und hierbei ein besonders Augenmerk auf die Lehrerausbildung zu richten.

Die beiden von der Kommission zur Disposition gestellten Gedenkstätten passen in ihrer heutigen Struktur durchaus in die Erinnerungslandschaft, stellen sie doch ein gewisses Korrektiv zur Dominanz von Alltags- und Gesellschaftsanalysen sowie zur nostalgischen Verklärung der DDR dar. Zu Recht werden sie von „Freunden der DDR“ als Störfaktor angesehen. Gerade die gut besuchten authentischen Orte leisten derzeit mehr für die politische Aufklärung als viele Bücher und Forschungsprojekte der Kommissionshistoriker zusammen. Dabei ziehen beide Gedenkstätten ihre Kraft aus dem bürgerschaftlichen Engagement vieler ehrenamtlicher Akteure, die vor 1989 zu den Gegnern der SED-Diktatur gehörten.

Der Verfasser ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und leitet dort den Forschungsverbund SED-Staat.

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