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Was WISSEN schafft: Der Tanz eines ungleichen Paares

Warum Silvester diesmal eine Sekunde länger dauert

Dieses Jahr wollen die Schreckensmeldungen gar nicht aufhören. Das Erdklima kippt, das Ozonloch wächst, die Wirtschaft geht den Bach runter. Und jetzt macht auch noch die Erde schlapp: Weil die Rotation unseres Heimatplaneten immer langsamer wird, müssen in der Silvesternacht die Uhren eine Sekunde angehalten werden. Schon 33 Mal wurde die Weltzeit in den letzten 50 Jahren gestoppt, damit die Uhren richtig ticken. Sonst wäre es eines Tages nicht mehr Mittag, wenn der Kirchturm zwölf schlägt, der Fünf-Uhr-Tee käme nach dem Abendessen und die Bahnhofsuhr würde nach dem Mond gehen.

Tatsächlich ist an der globalen Erlahmung der Mond schuld. Weil seine Massenanziehung ständig an der Erde zerrt, drehen sich die beiden Himmelskörper zusammen wie eine riesige, asymmetrische Hantel. Durch die Anziehungskraft entsteht ein Gezeitenbuckel auf der dem Mond zugewandten Seite, die Fliehkraft erzeugt noch einen Buckel gegenüber. Deshalb gibt es, grob gerechnet, pro Tag zweimal Ebbe und zweimal Flut. Auf dem Meer erreicht der Tidenhub 21 Meter, auch das Land hebt und senkt sich um bis zu 40 Zentimeter. Das Durchwalken der Erdoberfläche verbraucht enorme Energie, die der Erdrotation entzogen wird. So verlängert die kosmische Backenbremse den Erdentag um etwa zwei Tausendstelsekunden pro Jahrhundert.

Der Tanz des ungleichen Paares ist für die Erde auch aus einem weiteren Grund ziemlich erschöpfend: Sie muss ihren trägen Trabanten ständig anschubsen. Jedes Mal, wenn die rotierende Erde einen Gezeitenbuckel unter dem Mond vorbeidreht, zieht sie ihren Juniorpartner auf dessen Umlaufbahn ein Stück nach vorne. Durch den zusätzlichen Schwung wird die Fliehkraft des Trabanten größer. Der Mond treibt deshalb langsam von der Erde weg, er entfernt sich jedes Jahr um rund 3,8 Zentimeter. Eines fernen Tages wird er so weit weg sein, dass sich keine Gezeitenbuckel mehr bilden. Dann hat das Gezerre der Giganten endlich ein Ende, die beiden Himmelskörper schweben langsam und friedlich im All. Niemand wird mehr von der Flut überrascht oder bei Vollmond des Schlafes beraubt – vorausgesetzt natürlich, dass es dann noch jemanden auf der Erde gibt.

Trotzdem wäre es ein Fehler, den fahlen Gesellen fortzuwünschen. Neueren Erkenntnissen zufolge wäre ohne den Mond kein menschliches Leben möglich. Ohne ihren Bremser würde die Erde wie ein rasender Derwisch rotieren. Ein Tag dauerte nur wenige Stunden, Winde von mehreren Hundert Stundenkilometern heizten die Oberfläche auf.

Zudem hält der Mond die Lage der Erdachse stabil. Weil die Erdrotation den Äquator nach außen treibt, ist der Globus nämlich nicht ganz rund. An der „Äquatorwulst“ wirkt die Gravitationskraft des Mondes stärker als an den Polen, weil hier der Abstand zwischen den Himmelskörpern geringer ist. So hält der Mond seine kosmische Tanzpartnerin sanft an der Hüfte und verhindert, dass ihre Drehachse ins Schwanken gerät – die Pendelbewegung der Erdachse beträgt deshalb weniger als drei Grad. Ohne den Mond würde die Achse bis zu 85 Grad wackeln, das Erdklima wäre vollkommen instabil: Sommer und Winter jagten einander in chaotischer Folge. Tropen und Pole würden mal bei minus 50 Grad unter meterdickem Eis versinken, mal bei plus 80 Grad in der Sonne glühen.

Angesichts dieser Alternative sind Mondsüchtige, Werwölfe und Schaltsekunden dann doch das kleinere Übel. Wer nach der „koordinierten Weltzeit“ (der früheren Greenwich-Zeit) Silvester feiert, mag in der Schaltsekunde um Mitternacht einen Kuss verlängern in dem Bewusstsein, dass in diesem Moment die Zeit stillsteht. Für uns Mitteleuropäer ist die mondbedingte Zeitkorrektur leider weniger romantisch. Die Extrasekunde gibt es hier erst um „00:59:60 Uhr“, also genau eine Stunde nach dem Jahreswechsel, aber eine Sekunde vor ein Uhr. Dafür kann der Mond jedoch nichts: Damit die Datennetze nicht zusammenbrechen, muss die Zeit auf der ganzen Welt zugleich umgestellt werden. Für einen Silvesterkuss ist es dann bei uns zu spät – dafür ist „00:59:60 Uhr“ der perfekte Moment, um auf den Mond anzustoßen.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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