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Meinung: Was Wissen schafft: Medizin für Gesunde

Kaum war das neue Gesetz zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten veröffentlicht, formierten sich in ganz Deutschland die Gegner. Ihre Kritikpunkte: Die Zwangsimpfungen im Kindesalter wären von zweifelhafter Wirkung, hätten möglicherweise unbekannte Nebenwirkungen und stellten einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit dar.

Kaum war das neue Gesetz zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten veröffentlicht, formierten sich in ganz Deutschland die Gegner. Ihre Kritikpunkte: Die Zwangsimpfungen im Kindesalter wären von zweifelhafter Wirkung, hätten möglicherweise unbekannte Nebenwirkungen und stellten einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit dar. Der eilig gegründete "Deutsche Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung" warnte gar vor drohender "Blutverjauchung", zum Beispiel durch Verbreitung der "Franzosenkrankheit" Syphilis.

Die Rede ist vom ersten "Reichsimpfgesetz", erlassen vom deutschen Kaiser anno 1874. Die darin vorgeschriebene Pockenimpfung verwandelte eine tödliche Massenseuche innerhalb weniger Jahre zur medizinischen Rarität. Anschließend radierten weltweite Impfprogramme die Seuche vom Globus, seit 1980 sind Pocken die erste - und bisher einzige - endgültig besiegte Krankheit. Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland das nagelneue "Infektionsschutzgesetz", die "gemeingefährlichen Krankheiten" früherer Tage heißen heute nüchtern Infektionskrankheiten.

Der Streit um Nutzen und Gefahren der Schutzimpfungen im Kindesalter bewegt jedoch wie eh und je die Gemüter von Eltern, Ärzten und Heilpraktikern: Sind geimpfte Kinder wirklich gesünder? Können Impfstoffe Allergien auslösen? Stärken "natürliche" Kinderkrankheiten wie Masern oder Röteln nicht vielleicht sogar das Immunsystem? Um es gleich vorweg zu nehmen: Die heute empfohlenen Impfstoffe sind sicher und sinnvoll. Ernste Nebenwirkungen sind äußerst selten, auf jeden Fall wesentlich seltener und harmloser als die möglichen Schäden der jeweiligen "natürlichen" Krankheiten. Für die Hypothese, dass Kinderkrankheiten die Immunabwehr stärken, gibt es keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg. Trotzdem ist Deutschland unter den Impfmuffeln der EU immer noch einer der Spitzenreiter. So erkranken jährlich 50-60 000 Deutsche an Masern, während die Krankheit etwa in Schweden fast ausgelöscht ist - nur in Italien wird noch weniger gegen Masern geimpft als hierzulande.

Da es in Deutschland keine allgemeine Impfpflicht mehr gibt, kommt den Kinderärzten die Aufgabe zu, jedes Elternpaar einzeln von den "öffentlich empfohlenen" Impfungen zu überzeugen. Das kostet zum einen viel Zeit, die als Beratungsleistung schlecht bezahlt wird. Zum anderen ist es auch für fortbildungswillige Mediziner fast unmöglich, mit der Gerüchteküche Schritt zu halten: Beinahe täglich erscheinen Schreckensberichte über angebliche Impfschäden und Theorien über die Vorteile der "natürlichen" Infektionen. Dank des Internets sind die Patienten oft besser informiert als ihre Ärzte - eine Website in den USA gibt sogar konkrete Ratschläge, wie man sich um die dort vorgeschriebenen Schutzimpfungen herummogeln kann.

Oft vergehen Jahre, bis vage Gerüchte durch wissenschaftliche Untersuchungen widerlegt werden. 1998 hatte ein britischer Wissenschaftler den Verdacht geäußert, dass die in allen Industrieländern übliche Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln eine Ursache des frühkindlichen Autismus sei. Erst zwei Jahre später schafften statistische Auswertungen mit mehreren tausend Kindern den Vorwurf aus der Welt - die ursprüngliche Studie hatte auf ganzen zwölf Fällen basiert. Der Keuchhusten-Impfung haftete jahrelang der - später widerlegte - Verdacht an, für einige Fälle des plötzlichen Kindstodes verantwortlich zu sein. Und erst im Februar widerlegten zwei große Studien den Vorwurf, die Impfung gegen Hepatitis-B verursache Multiple Sklerose.

Um Eltern von der Notwendigkeit der Schutzimpfungen im Kindesalter zu überzeugen, müssen Ärzte und Pharmaindustrie vor allem das Vertrauen ihrer Patienten wieder gewinnen. Dazu gehört auch, jeweils individuell nach echten Risikofaktoren - etwa schweren Infektionen - zu fahnden, statt hoppla-hopp ohne Diskussion die Spritze zu geben. Der Preis für die Wahlfreiheit der Patienten ist die Geduld der Ärzte - auch wenn das nicht in der Gebührenordnung steht.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle.

Alexander S. Kekulé

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