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Meinung: Welches Netzwerk soll es sein?

Die jungen Demonstranten sind für eine gute Sache – aber nicht unbedingt für ihre eigene

Letztes Wochenende war in Berlin-Mitte die Hölle los: man demonstrierte gegen die Sozialreformen. Es kamen Hunderttausend. Wenn so viele zur nächsten Love Parade kommen, hat Dr. Motte Glück. Damit hatte selbst Attac nicht gerechnet. Viele der Demonstranten waren jung, um die zwanzig Jahre alt. Und sie fühlen sich beim Netzwerk Attac genauso gut aufgehoben wie im Netzwerk Sozialstaat, das ihnen von Geburt an Zahnspangen, Diercke-Weltatlanten und Pillen-Rezepte geschenkt hat.

Jetzt stehen die Annehmlichkeiten des Sozialstaats zur Disposition, und – so funktioniert Attac – dagegen muss demonstriert werden. Komisch, dass es so lange gedauert hat. Bisher fuhr man im Reisebus nach Seattle oder Genua. Jetzt sind die Proteste hier angekommen, vor der Haustür. Nicht nur die große Weltpolitik, auch die Agenda 2010 hat dem Netzwerk Attac einen gewaltigen Zulauf verschafft. Die Regierung sei verantwortlich für das gigantischste Verarmungsprogramm, das dieses Land je gesehen habe, heißt es. Jetzt sei eine breite außerparlamentarische Opposition notwendig. Attac ist gleichzeitig gegen die Regierung und die parlamentarische Opposition. Deswegen sitzt das Netzwerk in der Zwickmühle. Will es die Regierung stürzen, der es Neoliberalismus vorwirft? Nein. Was dann käme, wäre aus Attac- Sicht noch neoliberaler. Und egal kann es dem Netzwerk nicht sein, wer das Land regiert. Wird aus der Nicht–Regierungsorganisation Attac womöglich selbst eine Partei? So ähnlich haben auch die Grünen angefangen. Dann muss Attac allerdings erst lernen, seine Ideen zu Ende zu denken.

Attac ist eine altruistische Bewegung der Gegenwart. Die Jungen denken nicht an sich. Sie demonstrieren für die Renten der Alten, die ihre eigenen höchst unsicher machen. Für die Interessen anderer auf die Straße zu gehen, ist nicht neu. Bisher hat man beim Demonstrieren für die Enrechteten aber durchaus auch an persönliche Interessen gedacht: an die eigene Sicherheit, die durch Krieg oder Atomkraft bedroht ist. Oder man hat für oder gegen etwas ganz Konkretes demonstriert: den Castor, die USA, gern auch für die Freigabe von weichen Drogen. Was, wenn die heute Zwanzigjährigen alt sind? Demonstrieren dann auch die Jungen für ihre Rente? Gibt es dann noch Renten, die der Staat bezahlt? Wahrscheinlich nicht. Die junge Protestwelle gegen den Umbau der sozialen Sicherungssysteme ist paradox: Sie begräbt die Protestierenden unter sich.

Um die Zwanzig ist die Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann (Grüne), unter dreißig ihr Kollege Carsten Schneider (SPD). Sie sagen über ihre Art, Politik zu gestalten, sie sei in erster Linie von Pragmatismus geprägt, von der Orientierung an der Sache. Schneider spricht von Einschnitten und Kompromissen, die notwendig seien. Klar, sozial verträglich sollten sie schon sein. Schneider würde nicht mit Attac auf die Straße gehen, weil er sich als jemand begreift, der die Interessen der eigenen Generation vertritt. Als Abgeordneter, als einer, der mitregiert. Schneider steht auf der anderen Seite. Wie plötzlich auch die Grüne Anna Lührmann.

Demonstrieren mit Wut im Bauch ist seit den Anti-Irak-Krieg-Demonstrationen endlich wieder ein Privileg der jungen Generation. Wenn sie jetzt noch ab und zu an sich selbst denkt, entsteht aus dem Protest vielleicht ein Programm. Ein bisschen Egoismus dürfte einer ehemaligen Spaß-Generation nicht allzu schwer fallen.

Esther Kogelboom

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