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Meinung: Wille zum Rausch

Die WM-Deutschen sind Patrioten geworden, weil endlich mal was klappt

Auf dieses Bild haben wir lange gewartet: Angela Merkel, der man alles nur nicht Mangel an Disziplin und Beherrschung vorwerfen kann, reißt die Arme in die Höhe, jubelt und klatscht Beifall. Die deutsche Fußball-Auswahl hat ein WM-Spiel gewonnen. Die eiserne Kanzlerin ist außer sich vor Freude und mit ihr sind es Millionen deutscher Mitbürger. Für ein paar Augenblicke der Geschichte ist die klassenlose Gesellschaft hergestellt. Es gibt keine Parteien und keine Konflikte mehr, es gibt nur noch Fußballfreunde, die dem deutschen WM-Sieg entgegenfiebern. 300 000, 500 000, 700 000 Menschen auf der Berliner Fanmeile und Millionen daheim vor den Fernsehgeräten. Der Ku’damm sieht aus wie am autofreien Sonntag vor 33 Jahren. Man könnte auf der Überholspur kegeln, und keinen würde es stören.

Das ist die Situation. Wie lange die Euphorie anhält, hängt davon ab, wie weit die deutsche Elf in dem Turnier kommt.

Mir geht das ganze Spektakel am Gemüt vorbei. Wenn schon Sport, dann Formel 1, Boxen oder Billard, alles Übrige ist Völkerball für Erwachsene. Ginge es nach mir, würde ich jedem Spieler einen eigenen Ball geben, damit das Gerenne aufhört. Spielt Deutschland gegen Polen oder Saudi-Arabien gegen Tunesien, finde ich es bedauerlich, dass nicht beide Teams verlieren können. Und ginge es in der Welt gerecht zu, müsste Trinidad-Tobago die WM gewinnen. Ich kann es auch nicht nachvollziehen, was Menschen dazu bringt, sich in Fahnen zu hüllen, sei es die deutsche, die PACE- oder die ADAC-Fahne. So wie ich nicht verstehen kann, warum es Menschen gibt, die durch den Ärmelkanal schwimmen, statt eine Fähre zu nehmen, oder einen Berg besteigen, auf dessen Gipfel es kein Café gibt.

Ich kann vieles nicht verstehen oder nachvollziehen. Und ich versuche es nicht einmal. Es gibt zu viele Parallelwelten vor meiner Haustür.

Aber das gehört sich nicht. Wir leben schließlich in Deutschland, und da muss alles „hinterfragt“ werden. Und deswegen ist zugleich mit der WM ein Patriotismus-Wettkampf unter den Intellektuellen ausgebrochen. Eine Fraktion warnt und mahnt zur Besonnenheit, die andere gibt sich dem Rausch der Stunde hin. Ein Berliner Autor, der im wirklichen Leben eine Wassermelone von einem Fußball nicht unterscheiden kann, jubelt im Leni-Riefenstahl- Ton: „Heute, jetzt, ist der Triumph zum Greifen nahe. Wir müssen nur daran glauben, den Rest besorgen unsere Jungens. Deutschland wird 2006 wieder Weltmeister!“ Während in der notorisch selbstkritischen „Kulturzeit“ auf 3sat ein Professor die üblichen Bedenken äußert.

Dabei ist die Sache ganz einfach. Sieben Jahre lang hat das Kummergesicht von Joschka Fischer den öffentlichen Diskurs bestimmt. Immer ging es in Deutschland nur bergab. Weniger Abiturienten als in Island, weniger Nobelpreisträger als in Israel, weniger Hightech-Experten als in Indien. Dafür mehr Arbeitslose, mehr Schulden, mehr Gewalt auf den Schulhöfen, mehr Mehrwertsteuer und explodierende Benzinpreise. „Deutschland ist ein Sanierungsfall“, sagt sogar die Kanzlerin. Und eben noch wären wir beinahe in einen Krieg hineingeschliddert, wenn uns Gasprom-Gerhard nicht davor bewahrt hätte.

Soll man es da den Menschen übel nehmen, dass sie nur auf einen Anlass gewartet haben, sich endlich freuen zu dürfen – nachdem ihnen gestern noch eingeredet wurde, sie seien nicht einmal fähig zu trauern?

Mit Nationalismus hat das nichts zu tun, mit Patriotismus auch nicht. Solange die meisten Autos, an denen deutsche Fahnen wehen, das Markenzeichen von Toyota oder Hyundai tragen, muss man sich keine Sorgen machen. Mein Türke in der Podbielskiallee hat das begriffen. Er bietet zur WM eine Spezial-Grill-Platte für 11 Euro an. Und er freut sich über jedes Spiel, egal wie es ausgeht. Denn er gewinnt immer.

Der Autor ist Reporter beim „Spiegel“.

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