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Wirtschaftspolitik: Es ist ja nur zu seinem Besten

Der Mensch will keine Reformen, trotz Einsicht in deren Nutzen. Deshalb brauchen brutale Wahrheiten eine Portion Dichtung.

Wie viel Wahrheit braucht, wie viel Dichtung verträgt gute Wirtschaftspolitik? Im Augenblick wäre die Antwort auf diese Frage sonnenklar: Die Wirtschaftspolitik braucht mehr Wahrheit. Sie leidet elementar darunter, dass unter der Flagge der Gerechtigkeit Fehler gemacht werden. Fehler, die einmal und endlich durchgesetzte Reformen korrumpieren, die das wenige Erreichte fundamental infrage stellen.

Der Vorstoß des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, das Arbeitslosengeld für Ältere zu verlängern, zeigt, dass die wenigen echten Einsichten, die man in der Arbeitsmarktpolitik gewonnen hat, keine Rolle spielen, wenn es hart auf hart kommt. Wahrheit? Egal. Aus schierer Parteitaktik sind die beiden Volksparteien entschlossen, jene Irrwege zu gehen, die das Sozialsystem der Bundesrepublik schon einmal fast an den Rand des Ruins geführt haben.

Und doch weist die Diskussion über das Arbeitslosengeld auf ein tiefergehendes Problem in der deutschen Reform-Debatte hin. Mehr als 85 Prozent der Bevölkerung, so zeigen Umfragen, halten Becks Vorschlag für richtig, und bei den übrigen Reformbestandteilen der Agenda 2010 liegen die Verhältnisse kaum anders. Obwohl die Konjunktur gut läuft und der Arbeitsmarkt geradezu spektakuläre Erfolge meldet, ist es bis heute nicht gelungen, die Bundesbürger von der Notwendigkeit der Reformen zu überzeugen. Im Gegenteil: Je häufiger die Politik in den vergangenen Jahren den Mut zu Veränderungen fand, desto stärker schwand das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft.

Der Reformstreit ist allgegenwärtig. Entweder man ist dafür, oder man ist dagegen, Befürworter und Gegner liefern sich zuweilen spektakuläre Auseinandersetzungen wie zuletzt Kurt Beck und Franz Müntefering. Erklärungen für das seltsame Verhalten Deutschlands, wenn es um Veränderung, Wandel und Fortschritt geht, werden dagegen kaum gesucht. Dabei geht es um eine zentrale Frage. Nämlich darum, ob Menschen im Licht der Informationen, die sie haben oder wahrnehmen, tatsächlich rational entscheiden, so wie es die Wirtschaftspolitik bisher immer angenommen hat.

Wer in Rechnung stellt, dass Rationalität nicht immer die dominierende Rolle spielt, müsste aber selbst psychologische und verhaltenstheoretische Faktoren in Betracht ziehen, um wirtschaftspolitisch adäquat zu handeln.

Der Vater der sozialen Marktwirtschaft hat das gewusst. Ludwig Erhard sagte: „Das wirtschaftliche Geschehen läuft nicht nach mechanischen Gesetzen ab. Die Wirtschaft hat nicht ein Eigenleben im Sinne eines seelenlosen Automatismus, sondern sie wird von Menschen getragen und von Menschen geformt. (…) Man soll daher die Methode psychologischer Einwirkungen nicht geringschätzen.“

Die Verhaltensökonomik relativiert eine der Kernannahmen der traditionellen ökonomischen Theorie. Von Adam Smith bis Milton Friedman unterstellte die Wirtschaftswissenschaft, dass es die Vernunft ist, die den Menschen regiert.

Dass diese Annahme das menschliche Verhalten bestenfalls näherungsweise abbildet, dringt nur langsam in die Wirtschaftswissenschaft vor. Aus Erkenntnissen der experimentellen Psychologie können Ökonomen lernen, dass menschliches Verhalten keineswegs nur von der Vernunft geleitet wird, sondern auch von Gefühlen, Erfahrungen und Einstellungen. Werden die Menschen in kontrollierten Tests vor wirtschaftliche Entscheidungen gestellt, verhalten sie sich oft ganz anders, als es den Vorhersagen der traditionellen ökonomischen Theorie entspricht. Sie handeln aus Gewohnheit, bevorzugen gegen alle Vernunft die schnelle Befriedigung von Bedürfnissen oder üben sogar Nächstenliebe statt Eigennutz.

Auch Fairness spielt eine große Rolle. Wird eine Testperson beauftragt, einen Betrag von zehn Euro so mit Testperson B zu teilen, dass B dem Deal zustimmt, kommt es in der Regel zu Entscheidungen, die der Vernunft widersprechen. Würden A und B streng rational handeln, bräuchte A von seinem Geld nicht mehr zu opfern als einen Cent. Ein Cent nämlich ist besser als nichts, und so wäre es hochgradig vernünftig, wenn B dem Angebot zustimmen würde.

Doch die Testpersonen einigen sich in der Regel darauf, das Geld annähernd gleich untereinander aufzuteilen. Anders ausgedrückt: Mit einem Cent abgespeist zu werden, empfanden die meisten Menschen als dermaßen unfair, dass sie eine entsprechende Offerte lieber dankend ablehnten.

Genauso irrational erscheint ein weiteres Verhaltensphänomen, das die Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Amos Tversky entdeckten. Sie fanden heraus, dass Menschen lieber Verluste vermeiden, als Gewinne erzielen zu wollen. Wer 100 Euro einbüßt, empfindet den Verlust doppelt so stark wie derjenige, der einen Gewinn von 100 Euro nicht erzielt. Obwohl es ökonomisch auf das Gleiche hinausläuft, haben die beiden Ereignisse also eine höchst unterschiedliche Bedeutung.

Das Ergebnis hat erhebliche Konsequenzen, vor allem für die Theorie von Finanzmärkten. Es erklärt, warum Anleger oft viel zu lange an verlustbringenden Papieren festhalten und warum sie umgekehrt Gewinne oft viel zu schnell mitnehmen. Sie bewerten die ökonomisch gleichwertigen Ereignisse höchst unterschiedlich – und verpassen dabei oft erhebliche Gewinnchancen.

„Konsumenten“, so erklären die Ökonomen David Laibson und Jeromin Zettelmeyer eine weitere Auffälligkeit, verzichten nicht gern auf ihre spontanen Bedürfnisse. Biete man beispielsweise einem Hungrigen die Alternative, heute eine Mahlzeit zu bekommen oder aber morgen zwei, so werde er sich für die Mahlzeit entscheiden, die ihm am Nächsten liegt. Anders sehe es aus, wenn man fragt, ob er in 100 Tagen eine oder in 101 Tagen zwei Mahlzeiten wählen würde. In diesem Fall entscheiden sich die meisten Menschen für die doppelte Ration in 101 Tagen. Erst bei Erwägungen für die Zukunft siegt die Rationalität über das spontane Bedürfnis. Selbstdisziplin, so sagen beide Forscher, wird nur dann leicht geübt, wenn sie auf die Zukunft bezogen wird.

Bei der Riester-Rente läuft im Augenblick das komplette Schema dieses Verhaltensmusters ab: Um die unvermeidlichen Kürzungen der gesetzlichen Rente abzufedern, führte die rot-grüne Bundesregierung eine freiwillige Zusatzrente ein, die staatlich gefördert wurde. Doch die hochgelobte Riester- Rente floppte zunächst. Die Betroffenen entschieden sich, um im Bild zu bleiben, lieber für die Mahlzeit jetzt als für die Zukunftsvorsorge.

Hätten sich die Reformer jedoch auch noch klar gemacht, dass Menschen sich schwerer tun, sich gegen etwas zu entscheiden, als eine Selbstbindung freiwillig einzugehen, wie es Nobelpreisträger George A. Akerlof herausgefunden hat, so hätten sie die Riester-Rente anders aufgebaut: Nicht als Optingin, wie es die Verhaltenökonomen ausdrücken, sondern als Optingout. Jeder wäre versichert worden, es sei denn, er hätte sich dagegen entschieden. Akerlofs Forschungen zeigen nämlich, dass mehr Menschen zögern, sich in einen freiwilligen Sparplan einzuschreiben, als aktiv zu kündigen, wenn sie automatisch eingemeindet werden.

Ein weiteres Phänomen, über das Wirtschaftswissenschaftler und Experten den Kopf schütteln, lässt sich an der Rentenreform erklären: Der Mensch an sich will keine Reform. Er hat, so sagen die Verhaltensökonomen, stets eine Präferenz für den Status quo. Das ändert sich erst, wenn der neue Zustand eine Weile anhält. Dann wird der neue Status als Status quo empfunden und akzeptiert. Erst als die Rentenreform als neuer Status quo akzeptiert war, zog das private Sparen an. Heute wird das staatlich geförderte Vorsorgesparen von vielen Marktteilnehmern als Errungenschaft wahrgenommen.

In der Arbeitsmarktpolitik wird ebenfalls versucht, die Betroffenen zu einer positiven Haltung zu bewegen, allerdings mit weniger tauglichen Mitteln. Hier werden Reformmaßnahmen nicht nur umgesetzt, sie werden auch ziemlich genau auf ihren tatsächlichen Arbeitsmarkterfolg überprüft. Am Ende wird jeder, der in eine Arbeitsmarktmaßnahme geschickt wird, wissen, ob seine anschließende statistische Vermittlungsaussicht 30, 60 oder 80 Prozent beträgt. Tatsache ist aber, dass die wirklich erfolgreichen Länder in der aktiven Arbeitsmarktpolitik – etwa Österreich und Dänemark – gar nicht so genau wissen wollen, wie ihr Erfolg zustande kommt. Sie interessieren sich nicht besonders für die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen, sie probieren mal dies und mal jenes. Und schon gar nicht kämen sie auf die Idee, dieses Wissen, so vorhanden, allen Marktteilnehmern zur Verfügung zu stellen. Müssen sie auch nicht. Denn oft reicht es schon, wenn die Peers – die ebenfalls Betroffenen, die Familienmitglieder oder das weitere Umfeld – beeindruckt sind, argumentieren sie. Die Verhaltensökonomen unterstützen das. Sie sagen, dass das persönliche Umfeld von Menschen, also das, was am Stammtisch, am Arbeitsplatz oder im Arbeitslosenzentrum gesagt wird, die Menschen mehr beeindruckt als das, was an objektiven Informationen zur Verfügung steht. Allein die glaubwürdige Drohung mit einer Maßnahme reicht nach Auffassung der Arbeitsmarktpolitiker anderer Länder aus, um die allgemeine Arbeitslosigkeit zu senken und die Menschen zu bewegen, schnell nach einer angemessenen Beschäftigung zu suchen.

In Deutschland geht es andersherum. Hier versorgt sich das Umfeld mit Informationen darüber, wie man zu Mehraufwandsentschädigungen kommt oder welcher Mitarbeiter im Job-Center nicht so streng hinguckt. Die Rolle der Peers ist in beiden Systemen dominierend. In einem Fall nutzt sie, im anderen nicht.

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse für eine vernünftige Wirtschafts- und Sozialpolitik? Statt auf die Ratio zu setzen, empfiehlt eine Forschergruppe, die im Auftrag des Bundesfinanzministers eine Studie erstellt hat, Experimente. Wenn die Menschen im vorurteilsfreien Raum sehen könnten, wie eine Veränderung die Dinge zum Besseren wenden kann, wenn die Gewinner ein Gesicht bekommen, würden auch die anderen eher bereit sein mitzumachen. Denn auch Veränderung werde asymmetrisch wahrgenommen. Die Verlierer haben tendenziell ein stärkeres Gewicht als die Gewinner. Die Menschen solidarisieren sich mit ihnen bereitwillig, wenn sie das Gebot der Fairness verletzt sehen. Sie glauben erst dann, dass eine Veränderung gerecht sein kann, wenn beide Faktoren – das stärkere Gewicht der Verlierer und der Fairness-Vorbehalt – glaubwürdig ausgeräumt werden. Für Ludwig Erhard gehörte das übrigens zum Grundverständnis der sozialen Marktwirtschaft: „Alle müssen am Erfolg teilhaben. Es ist der soziale Sinn der Marktwirtschaft, dass jeder wirtschaftliche Erfolg dem Wohle des ganzen Volkes nutzbar gemacht wird.“ Erhard wusste, dass man auch um die emotionale Zustimmung der Menschen werben muss.

Bestimmungsfaktoren wie diese nehmen diejenigen, die sich heute mit Wirtschafts-, Sozial oder Finanzpolitik auseinandersetzen, wenn überhaupt, dann nur zögernd zur Kenntnis. Während die einen immer noch darauf beharren, dass der Mensch vernunftbegabt und ein rationales Wesen ist, auf dessen Einsicht man bauen können muss, haben sich die anderen darauf verlegt, nur noch aus dem Bauch heraus zu beurteilen, was wohl schmecken könnte und was nicht.

Würden Wirtschafts- und Sozialpolitiker ihre Wähler ernst nehmen, statt den Status quo zu desavouieren, müssten sie stärker berücksichtigen, dass Menschen nicht immer rational sind und dass man deshalb mit rein rationalen Mitteln nicht weit kommt. Statt die völlige Umgestaltung von Politikfeldern anzukündigen, ist es klüger, Kontinuität als vorteilhaft zu kennzeichnen und nötige Veränderungen mit einer Fortentwicklung des Status quo zu begründen. Eine angemessene Wirtschaftspolitik würde stärker auf Fairness und auf gerechte Belastungen achten.

Andererseits aber würde sie an einmal vereinbarten Reformen festhalten und lernen, über Details hinwegzusehen. Nur durch Stetigkeit lässt sich jenes Vertrauen erwerben, das Reformpolitiker als Startkapital dringend benötigen.

Umso intensiver aber muss über die Wege nachgedacht werden, die uns wieder zu den bewährten Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft zurückführen. Wer das ernsthaft tut, wird keine Abstriche an der Wahrheit machen. Aber er wird mehr Dichtung in der Wahrheit zulassen.

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