zum Hauptinhalt

Meinung: Wissen ist mehr als ein Modul

„Jeder sein eigener Gott“ vom 11. Juli Dieter Lenzen befürchtet ein Überbordgehen der Bildung im alteuropäischen Sinne und nimmt die expandierende Kompetenzmessung ins Visier, die er als „asiatische Gefahr“ für „eine humane Welt ohne Status und Übervorteilung“ beschwört.

„Jeder sein eigener Gott“ vom 11. Juli

Dieter Lenzen befürchtet ein Überbordgehen der Bildung im alteuropäischen Sinne und nimmt die expandierende Kompetenzmessung ins Visier, die er als „asiatische Gefahr“ für „eine humane Welt ohne Status und Übervorteilung“ beschwört. Nun wissen wir sehr wohl, dass gerade unter den alteuropäisch gebildeten Eliten nicht wenige die Katastrophen des 20. Jahrhunderts mitzuverantworten haben. Das macht bescheidener hinsichtlich der wohl von Lenzen erwarteten Wirkung humanistischer Bildungsideale. Andererseits war die Reform der Studiengänge im Anblick der Herausforderungen der zweiten Moderne mehr als überfällig. Doch Lenzens Einwurf gegen die Auswirkungen des Bologna-Prozesses hat gleichwohl etwas für sich. Studiengänge, die Studierende nachrechnen lassen, ob ein Buch von bestimmter Seitenstärke oder ein Thema noch in die Zeit- und Seitenvorgaben der Modulbeschreibungen passt, um gegebenenfalls seine Lektüre respektive Bearbeitung abzulehnen, dürften schwerlich mit Bildungsvorstellungen kompatibel sein, die über ein buchhalterisches Abarbeiten von abprüfbaren Vorgaben hinausgehen. So unabdingbar Kompetenzen und Standards sind, nicht zuletzt auch, um einem die Augen dafür zu öffnen, wie irreal die Annahme wäre, es hätte vor Pisa und vor der Bologna-Reform nur ideale Bildungssituationen gegeben: Den Bildungsbegriff in einem „empathischen Sinne“ (Lenzen), wenn man sich denn für ihn entscheidet, erschöpfen sie nicht. Normieren, Überwachen und Kontrollieren haben mit Bildungszielen wie Mündigkeit, Autonomie, Freiheit, Eigeninitiative, Individualität, Persönlichkeitsentwicklung, Selbständigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Begeisterung und Kreativität, die sich nicht standardisiert abprüfen lassen, wenig bis nichts zu tun. Viel aber mit Herrschaft und Kolonialisierung des Verhältnisses von Ich und Welt, um aus Individuen frei disponibles Humankapital zu machen, was einer boomenden Testindustrie Gewinne verschafft und Forschern Drittmittel, die im Ranking der Universitäten und Institute zählen. Asien ist längst mitten unter uns, nicht nur mit seinen Waren. Es gibt durchaus Befürworter der ‚asiatischen Methode', die Studierende in „Trivialmaschinen“ (Luhmann) verwandeln möchten, um den Preis, dass sie nicht mehr in der Lage sind, außerhalb von berechenbaren Verwertungsgesichtspunkten für etwas einzustehen und öffentlichen Gebrauch von ihrer Vernunft zu machen, die nicht durch Prüfungsvorgaben vorstrukturiert und fremdbestimmt ist. „Bildung beginnt mit Neugierde“, formulierte der Philosoph Peter Bieri. Gott sei Dank gibt es weiterhin Studierende, die sich von Bologna diese Neugier nicht nehmen lassen und an allen Kompetenztests vorbei zwischen „Standfestigkeit und Anpassung“ (Lenzen) ihren Weg gehen.

Prof. Hans-Dietrich Schultz,

Berlin-Kreuzberg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false