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Meinung: Wohin des Wegs, Grüne?

Die Ökologie ist ihr Zaubertrank. Er macht sie stark. Doch nun müssen sie sich entscheiden, ob sie nach Kuba wollen oder Jamaika

Die Grünen sind der Schlüssel für neue Mehrheiten, links oder rechts von der Mitte. Dieser Satz ist ebenso wahr wie der: Die Grünen sind in höchster Gefahr, zwischen alle Räder zu geraten. Weil beides stimmt, lohnt sich ein zweiter Blick auf die Partei. Wo steht sie nach der Bundestagswahl – und was steht ihr bevor?

Viele sagen: Da haben die Grünen aber wieder Glück gehabt bei dieser Wahl. Ohne den Hurrikan, der über New Orleans herfiel, ohne den daraufhin rapide steigenden Ölpreis – wer weiß, was aus ihnen geworden wäre. Jedenfalls keine Acht-Prozent-Partei.

Schon wahr. Aber andererseits, wie sähe es aus, wenn jetzt der Wahlkampf stattfinden würde? Dann würde nicht „Katrina“ das Thema Klimaerwärmung in den Vordergrund rücken, sondern „Wilma“. Und die Vogelgrippe würde den Grünen wahrscheinlich ebenfalls in die Hände spielen. So war es auch schon 2002. Da trat die Oder über die Ufer und erinnerte alle Welt daran, dass der Fluss in ein zu enges Bett gezwängt war, was die Ökologen bekanntermaßen schon immer gesagt haben. Kurzum: Die Grünen haben gar kein Glück. Sie haben sich nur um ein Thema herum gegründet, das fast immer irgendwo auf dem Globus virulent wird, ein Menschheitsthema eben.

Die Ökologie ist der politische Zaubertrank, in den die Grünen bei ihrer Geburt gefallen sind. Er macht sie stark und fast unverletzlich, sie können sich alle möglichen Eskapaden leisten, sie dürfen langweilig, bequem und machtversessen sein und überleben dann doch. Schon bei ihrer Gründung konnten sich einzig auf dem Feld der Ökologie Bürgerliche, Bäuerliche und Linksradikale zusammenfinden. Nur wegen der zivilisierenden Wirkung des Umweltschutzes konnte diese Partei zur Heilanstalt für überhitzte Ideologen aller Schattierungen von Rot werden.

Einmal jedoch bewahrte die Grünen auch ihre Ökologie nicht mehr vor einer existenzbedrohlichen Krise. Ende der 80er-Jahre setzte der Fall der Mauer die Partei so sehr unter Stress, dass die innerlinken Auseinandersetzungen überkochten und die Farbe Rot das Grün überstrahlte. Der grobe Versuch, bei der Bundestagswahl 1990 mit dem Ökö-Argument die typisch linke Unfähigkeit zu überdecken, mit der deutschen Einheit umzugehen, schlug fehl. Der Slogan „Alle reden von Deutschland, wir reden vom Wetter“ (gemeint war der Treibhauseffekt) wurde vom Wähler nicht angenommen und die Grünen flogen aus dem Bundestag. Die linke Streitkultur war so pathologisch geworden, der Kampf zwischen den Strömungen so brutal, dass nicht einmal der Zaubertrank mehr half.

Die Grünen von heute haben auf den ersten Blick mit denen von damals fast nichts mehr gemein. Sie verhalten sich über die Maßen vernünftig, streiten kaum noch, und links sind sie meist nur noch in absolut hautverträglicher Dosierung. Dennoch könnten sie in eine existenziell bedrohliche Lage geraten. Es könnte sich ein Richtungsstreit entfachen, der zum zweiten Mal die Wirkung des Zaubertranks übertrifft. Allerdings droht diesmal die Gefahr nicht wegen einer inneren ideologischen Überhitzung, sondern wegen eines Richtungsdilemmas, das von außen an die Grünen herangetragen wird. Außerdem macht ihnen heute nicht die Unfähigkeit zu schaffen, mit dem Streit darüber aufzuhören, sondern die Angst, mit dem Streiten überhaupt anzufangen.

Der Reihe nach: Die Bundestagswahl hat die politische Landschaft grundlegend verändert. Die rot-grüne Option spielt vorerst keine große Rolle mehr. Da es jedoch auch für Schwarz-Gelb nicht reicht, muss jetzt großkoalitionär regiert werden. Am Ende dieser Legislaturperiode – wann immer das sein mag – dürfte es jedoch eine Erneuerung der politischen Lager gegeben, links oder rechts, schwarz-gelb-grün oder rot-rot-grün. Bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, an welcher Partei diese Polarisierung am meisten reißen wird. Die Grünen müssen sich irgendwann entscheiden, entweder mit der FDP prinzipiell koalitionsfähig zu sein – oder mit der PDS. Dass sie ohne eine Festlegung in einen Wahlkampf gehen, kann ausgeschlossen werden, weil sie sonst die Qual der Entscheidung zwischen diesen Extremen dem Wähler zumuten würden. Der würde sich bedanken, entweder mit einer Stimmabgabe für Schwarz-Gelb oder für die SPD und die Linkspartei.

Also muss früher oder später entschieden werden. Die grüne Führung weiß natürlich, dass jede Entscheidung zwischen altlinks und neoliberal die Partei zutiefst schmerzen würde und sie, so oder so, etwa ein Drittel der Wähler kosten dürfte. Wenn man außerdem noch die Joschka-Fischer-Stimmen abzieht, so lässt sich angesichts der Bedrohungslage leicht erklären, dass die Grünen erst mal beschlossen haben, gar nichts zu beschließen. Zeit gewinnen heißt die Devise. Unglücklicherweise gewinnt man damit nicht nur Zeit, sondern man verliert sie auch. Denn je kürzer die Zeit zwischen einer Richtungsentscheidung und einer Bundestagswahl, desto weniger Gelegenheit hätte man, die eigenen Anhänger mit der jeweiligen Entscheidung zu versöhnen, desto höher beliefen sich dann die Verluste an Wählerstimmen.

Aber kann sich nicht noch alles ändern? Kann der Kelch nicht vorübergehen? Die grüne Spitzen haben wie die politische Klasse insgesamt in den letzten Jahren gelernt, wie viel Unvorhergesehenes geschehen kann. Warum soll man sich also verrückt machen wegen einer Wahl, die frühestens in drei Jahren ansteht?

Nun, es lässt sich alles Mögliche denken, was geschehen kann in dieser Legislaturperiode. Aber leider wenig, was den Grünen die Richtungsentscheidung erspart. Selbst wenn die Linkspartei ganz regierungsbrav werden sollte und die FDP etwas grünen-kompatibler, so bleibt die Kluft immer noch so groß, dass die Grünen sie nicht mit einem Spagat überbrücken können. Oder umgekehrt: So fundamentalistisch kann sich die Linkspartei schwerlich aufführen, dass SPD und Grüne gar nicht in die Verlegenheit kommen, sich für oder gegen diese Truppe zu entscheiden. Darauf zu hoffen, dass entweder die FDP oder die Linkspartei verrückt werden, scheint keine sinnvolle Strategie zu sein.

Die Grünen, vor allem die Realpolitiker unter ihnen, haben außerdem gelernt, dass sich in ihrer Partei am besten mit der normativen Kraft des Faktischen etwas verändern lässt. Also: keine Visionen, keine groß angelegten Strategien, lieber mal was machen. Darum setzen sie darauf, dass in den nächsten zwei Jahren in einem Bundesland das schwarz-grüne Experiment einfach losgeht und damit auch im Bund akzeptabler wird. Allerdings warten sie auf diesen Zufall schon seit vielen, vielen Jahren. Dass er sich partout nicht einstellt, ist indes kein Zufall. Denn damit Schwarz-Grün ohne vorherige strategische Entscheidung möglich wird, müssen sehr viele arithmetische und politische Bedingungen erfüllt sein.

Um es kurz zu machen: In dem betreffenden Parlament darf weder Rot-Grün eine Mehrheit haben noch Schwarz-Gelb; außerdem muss eine Gruppierung dabei sein, die allgemein nicht als koalitionsfähig angesehen wird (also Nazis oder früher die PDS); zum Schluss darf nur noch die Alternative große Koalition oder Schwarz-Grün bestehen, und dann muss auch noch die SPD geschickt wegverhandelt werden. Dass alle diese Bedingungen zusammen- kommen, ist möglich, aber noch nie passiert, weil es so unwahrscheinlich ist wie ein Toto-Gewinn. Und selbst wenn es beispielsweise in einem ostdeutschen Land zu Schwarz-Grün käme, so würde das den Schmerz der Richtungsentscheidung im Bund nur wenig mildern. Denn da käme ja noch die den Grünen innig verhasste FDP als zweiter Koalitionspartner erschwerend hinzu.

Die Richtungsfrage, so sagen die grünen Strategen, werde vorerst allein über die Inhalte entschieden. Inhalte vor Macht! Das ist eine schöne und auch sehr fromme Idee. Einmal vorausgesetzt, die Grünen könnten ihre Streitunlust überwinden, ihre in den Regierungsjahren verloren gegangene Kreativität zurückgewinnen und wie in den Jahren 1994 bis 1998 noch einmal zur politischen Avantgarde werden – würden dann Partei und Öffentlichkeit mit schräg gelegtem Kopf ganz naiv nur auf die guten Konzepte und Ideen schauen? Oder würden sie nicht bei jedem kleinsten Inhalt auch darauf achten, in welche Richtung sich die Grünen bewegen, nach Jamaika oder nach Kuba?

Man mag es bedauern, aber: Es gibt in der Politik keinen machtfreien Diskurs. Auch in jenen guten grünen Jahren 1994 bis 1998 konnte die Partei nur deshalb mit Konzepten reüssieren, weil diese auch in Richtung Macht, damals also Rot-Grün, wiesen. Nein, jede Idee der Grünen wird – wenn sie denn neben all den anderen interessanten Entwicklungen in den anderen Parteien überhaupt zur Kenntnis genommen wird – sofort auf ihren Richtungsanzeiger hin überprüft. Genauer: Konzepte, die nicht auch etwas zur Machtperspektive sagen, haben wenig Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden.

Politik ohne Macht? Es muss schon ein aktiver politischer Wille hinzukommen. Wer in diese oder jene Richtung will, muss aktiv dafür werben. Diejenigen bei den Grünen, die nach Jamaika wollen, tun das nicht. Sie sind noch immer traumatisiert vom Strömungsstreit der 80er-Jahre und haben daher beschlossen, über die Länder zu kommen und über die Inhalte. Sie reden infolgedessen etwas verdruckst und verdeckt. Ganz anders die Linken bei den Grünen: Sie werben fleißig und offensiv für Kuba. Christian Ströbele, der bei den Grünen Joschka Fischer in seiner Rolle als letzte lebende APO-Ikone abgelöst hat, sagt erfrischend geradeheraus: „Ich versuche aus der linken Wahlmehrheit in Deutschland eine linke Regierungsmehrheit zu machen.“ In wenigen Jahren will er so weit sein. Ähnlich denkt und redet auch Jürgen Trittin. Beide wissen, dass es bei den Grünen eine natürliche Gravitation nach links gibt, zumal, wenn sie in der Opposition sitzen. Alles, was nicht in Richtung Umverteilung, Staatsfixierung und Pazifismus zielt, musste der Basis schon immer mühsam abgetrotzt werden.

Die grüne Führung handelt jedoch nach dem didaktischen Prinzip von Joschka Fischer: Der ließ die Partei immer ziemlich links reden und trieb erheblichen Aufwand, um die Linke zu integrieren. Doch wenn es darauf ankam, riss er mit List, Tücke, Charme, Erpressung, Charisma und Wortgewalt das Steuer nach rechts. Letzteres aber können Fritz Kuhn, Renate Künast und Reinhard Bütikofer nicht. Die Lage ist bei den Grünen wie in der CDU nach der Wahlniederlage von 1998 und vor der Spendenaffäre: Die Partei verhält sich, als wäre er noch da, um sie zu führen, aber er ist nicht mehr da, er sitzt nur noch in der letzten Bank herum. (Viele in der Union machen sich zur Zeit große Illusionen, was die Aussichten auf eine Jamaika-Koalition angeht. Tatsächlich aber gilt: So lange von den Grünen keine sehr lauten Geräusche zu hören sind, driften sie allmählich nach links.)

Doch ist der Weg in eine rot-rot-grüne Koalition für die Ökopartei keineswegs weniger riskant als der umgekehrte. Auch wenn man das in Köln-Süd oder in Kreuzberg nicht glauben kann: Mindestens ein Drittel der Wähler würde auch dann verloren gehen, wenn die Grünen der PDS die Hand reichen. Dazu zählen die Bürgerlichen und die bürgerlich Gewordenen, nicht nur aus dem Westen. Vor der kulturellen Aversion gegen Ex-SEDler würde nicht einmal der grüne Zaubertrank die Partei schützen. Und dann stellt sich noch eine andere Frage, die auch die SPD bald sehr beschäftigen wird: Wenn sich die „linke Wahlmehrheit“, wie Ströbele sie nennt, wirklich als Regierungsbündnis zur Wahl stellte, wäre das nicht der sicherste Weg zu einer schwarz-gelben Mehrheit?

Die Grünen sind nicht ideologisch erhitzt, sie wollen keinen Streit, sie machen keine großen Fehler, sie haben einen Zaubertrank – und sind höchstwahrscheinlich doch vor eine existenzielle Herausforderung gestellt. Gerecht ist das nicht. Aber das ist Politik selten.

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