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Zahnpflege: Das Märchen von Karius und Baktus

Migrantenkinder putzen ihre Zähne oft so schlecht, dass sich eine soziale Schieflage der Kariesverteilung ergibt - meinen Gesundheitspolititker. Auf den zweiten Blick ist die Saga von Karies und Baktus jedoch nicht so kinderleicht zu erklären.

Jedes Kind weiß, dass man sich täglich die Zähne putzen muss. Und zwar mindestens drei Minuten, sonst gibt es keine Gutenachtgeschichte. Manche haben bunte Eieruhren im Badezimmer. Oder eine elektrische Zahnbürste, die nach drei Minuten ein lustiges Liedchen spielt. Mindestens zweimal am Tag wird geschrubbt. Schön von oben nach unten und im Kreis zurück, sonst gilt es nicht. Jedes Kind weiß natürlich auch, warum das alles so wichtig ist: Im Mund lauern Karius und Baktus, die beiden Monstermikroben. Die fressen die schönen, weißen Zähne auf, wenn man sie nicht rechtzeitig wegbürstet.

Auch Zahnärzte und Gesundheitspolitiker glauben an die Saga von Karius und Baktus, die auf ein norwegisches Kinderbuch aus den 40er Jahren zurückgeht. Als zwei große deutsche Studien kürzlich einen erschreckend hohen Kariesbefall bei Kindern mit Migrationshintergrund ausmachten, war die Diagnose klar: Der Nachwuchs aus der Türkei, Osteuropa und anderen Einwanderungsländern putzt sich nicht gründlich genug die Zähne. „Selber Schuld“ sagen da die braven deutschen Kinder, deren Gebisse seit kurzem weltweit vorbildlich sind.

Auf den zweiten Blick ist die soziale „Schieflage der Kariesverteilung“ (Robert-Koch-Institut) jedoch nicht so kinderleicht zu erklären. Der Großteil der Migrantenkinder in Deutschland putzt sich nämlich durchaus die Zähne, allerdings oft nur einmal am Tag und weniger lehrbuchmäßig. Kommt es also wirklich so sehr auf zweimal putzen, drei Minuten und kreisende Bürstenbewegungen an? Wieso ist das Putzen so wichtig, obwohl Karies meistens zwischen den Zähnen entsteht, wo die Bürste ohnehin nicht hinkommt?

Die bis heute weltweit gültige Heilslehre vom Zähneputzen hat ihren Ursprung in Berlin. Hier entwickelte der aus Ohio stammende Dentist Willoughby Dayton Miller im Jahr 1889 seine Theorie, wonach Bakterien Zucker aus der Nahrung zu Milchsäure abbauen, die den Zahnschmelz zersetzt. In den 60er Jahren wurde dann in verhärteten Zahnbelägen (Plaques), die als Vorstufe der Karies gelten, das säurebildende Bakterium „Streptokokkus mutans“ gefunden – seitdem hat Baktus einen wissenschaftlichen Namen und die Zahnfäule gilt als Infektionskrankheit.

Neue Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Geschichte nicht so einfach ist. In manchen kerngesunden Mündern leben massenweise Mutans-Streptokokken; umgekehrt kann Karies auch ohne die vermeintlichen Übeltäter entstehen. Auch müssen Plaques keineswegs immer zu Karies führen. Schließlich hat der jüngste Rückgang der Karies in den Industrieländern, der als Beweis für die Notwendigkeit des Zähneputzens zitiert wird, mit dem Zähneputzen an sich gar nichts zu tun: Das tägliche Morgen- und Abendritual wird seit den 50er Jahren propagiert, der Rückgang der Karies bei Kindern ist jedoch erst seit rund 20 Jahren zu beobachten – seitdem wird in großem Umfang Fluor zur Kariesprophylaxe eingesetzt.

Offenbar ist nicht der böse „Baktus“, sondern eine allgemeine Veränderung des biologischen Milieus in der Mundhöhle für die Karies verantwortlich. Dabei spielt der Rückgang nützlicher Bakterien, die schädliche Säuren neutralisieren können, eine wichtige Rolle. Als Auslöser kommen neben häufigem Zuckerkonsum auch Rauchen, Stress und allgemeine Abwehrschwäche in Frage – alles Faktoren, die bei Immigrantenkindern häufig vorkommen. Zähneputzen hilft demnach hauptsächlich durch das Fluor in der Zahnpasta, das die Zahnoberfläche abhärtet. Zusätzlich wird der Zucker weggespült und die Bakterienflora günstig beeinflusst. Anders ließe sich auch nicht erklären, dass die Bürste auch dort gegen Karies schützt, wo sie gar nicht hinkommt.

Den definitiven Beweis, dass die mechanische Wirkung der Zahnbürste zweitrangig ist, lieferten Versuche mit dem Desinfektionsmittel Chlorhexidin: Tägliche Mundspülungen verhinderten Karies vollständig, Plaques und sogar Karies im Anfangsstadium bildeten sich zurück – ganz ohne Zähneputzen.

Für Zahnputzmuffel gibt es leider trotzdem keine Ausrede: Gegen Zahnfleischentzündung, die zweite Volkskrankheit des Mundes, hilft regelmäßiges Putzen ohne Wenn und Aber. Also ab ins Bad, sonst gibt es keine Gutenachtgeschichte!

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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