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Zentralrat der Juden: Dreifacher Umbruch

Charlotte Knobloch zieht sich vom nationalen Präsidentenamt zurück. Damit endet die Ära der Holocaust-Überlebenden. Und es endet damit zugleich die Ära, da sie zur Alleinvertretung aller in Deutschland lebenden Juden berufen waren. Die Historisierung des Holocaust erfasst nun auch den Zentralrat, und dies gleich mit doppelter Wucht.

Als in Berlin die Zuwanderung von Juden aus Osteuropa – „Ostjuden“ nannte man sie abfällig – nach Erstem Weltkrieg und Russischer Revolution stark zunahm, wandten sich die assimilierten deutschen Juden indigniert ab. Mit dem „Stetl“ wollten die Deutschen jüdischer Religion und Herkunft nichts zu tun haben. So ähnlich geht es seit bald zwanzig Jahren erneut zu, da jüdische Bürger der untergegangenen Sowjetunion, seien sie Russen, Ukrainer oder Litauer, nach Deutschland auswandern. Nun sind es die Angehörigen der etablierten jüdischen Gemeinden, die sich mit dem Zustrom schwertun. Bis in ihre höchste Repräsentanz, den Zentralrat der Juden in Deutschland, hat es noch kein Vertreter der Neuankömmlinge geschafft; die Frage beiseite gelassen, ob es überhaupt einen der ihren reizt.

Der Zentralrat steht vor einem tiefgreifenden Umbruch. Charlotte Knobloch, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, seit 2003 Vizepräsidentin des Europäischen Jüdischen Kongresses, seit 2005 Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses, zieht sich nach nur vier Jahren im kommenden Herbst vom nationalen Präsidentenamt zurück. Damit endet unwiderruflich die Ära der Holocaust-Überlebenden. Und es endet damit zugleich die Ära, da sie aus naheliegenden Gründen zur Alleinvertretung aller in Deutschland lebenden Juden berufen waren. Die Historisierung des Holocaust erfasst nun auch den Zentralrat, und dies gleich mit doppelter Wucht. Weder kann ein zukünftiger Zentralratspräsident die Legitimation zum beständigen Mahnen aus der eigenen Biografie herleiten, noch spräche er damit auch nur für mehr als eine deutliche Minderheit hier lebender Juden, nämlich die alteingesessene Minderheit der Überlebenden.

Eine dritte, fundamentale Veränderung tritt hinzu. Die kleine Minderheit der Juden ist längst nicht mehr die einzige Minderheit und schon gar nicht diejenige, die derzeit im Zentrum öffentlicher Debatten steht. Juden müssen sich in Bundesdeutschland nicht mehr ihren Platz erobern, sie haben ihn, von der großen Politik seit jeher unterstützt und gefördert, längst gefunden. Mit dem Neubau zahlreicher Synagogen, Gemeindezentren und wohldotierter Schulen sind sie in die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt, aus der ihre Vätergenerationen brutal vertrieben worden waren.

Jetzt ist es eine andere, ungleich größere und unruhigere Minderheit, der alle Aufmerksamkeit gilt: die der Muslime. Während der Bau des Jüdischen Gemeindezentrums inmitten der Münchner Altstadt von allen Seiten Beifall findet, erregt der Bau einer Moschee sogar fernab der Innenstadt, wie in Köln, vehemente Bürgerproteste. In dieser Reibung zweier Kulturen, der christlich geprägten und der moslemischen, sprühen Funken, die im christlich-jüdischen Verhältnis längst unter lauter Wohlmeinen erloschen sind. Am Verhältnis zur wachsenden Minorität muslimischer Migranten wird sich erweisen müssen, welchen Platz die jüdische Minderheit im multikulturellen und religiös heterogenen Gefüge Deutschlands einnehmen will.

Wie immer der Zentralrat künftig zusammengesetzt sein wird, er muss der nach Herkunft und Grad der Religiosität enorm pluralistisch gewordenen jüdischen Bevölkerung gerecht werden, einschließlich derer, deren Judentum sich zuvörderst auf die in der Sowjetunion erlittene Diskriminierung beruft. Er muss sich von der ritualisierten Mahnerrolle verabschieden und ein zukunftsgewandtes Bild jüdischen Lebens zeichnen, statt nur die Schrecken der Vergangenheit an die Wand zu malen. Die Historisierung der Vergangenheit bedeutet nicht Vergessen, sondern entschiedene Zuwendung zur Gegenwart. Diese Gegenwart verlangt eine Antwort auf die neu gestellte Frage, was der Zentralrat sein will, welche gesellschaftliche Rolle er einnehmen und wie er auf die Sphäre der Politik einwirken will. Mit dem Amtswechsel an der Spitze endet eine sechzigjährige Ära. Eine neue, wenn sie denn gewollt wird, kann beginnen.

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