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Meinung: Zu den Akten

Von Robert Ide

Wenn man Marianne Birthler in den vergangenen Jahren gefragt hat, wie lange es ihre Behörde noch geben soll, hat sie lässig geantwortet: „Ich sehe keine zeitliche Begrenzung.“ Inzwischen kann sie sich da nicht mehr sicher sein. Die Bundesbeauftragte für die Akten der DDRStaatssicherheit muss um ihre Institution kämpfen wie schon lange nicht mehr.

Vor wenigen Tagen hat Innenminister Otto Schily handstreichartig die Rechtsaufsicht für Birthlers Behörde abgegeben. Die Bundesbeauftragte hat davon fast als Letzte erfahren. Aber auch unter der neuen Obhut setzt sich die Unsicherheit fort: Im Haus von Kultursstaatsministerin Weiss kursieren Papiere, die das Ende von Birthlers Aufklärungs-, Forschungs- und Archivarbeit herbeischreiben. Die Akten sollen demnach bis 2010 ins Bundesarchiv, die Forschungsaufgaben an andere Institute abgegeben werden. Die dazugehörenden Dementis können eines nur schwer verdecken: Die bisherige Aufarbeitung nach ostdeutscher Art neigt sich dem Ende zu.

Marianne Birthler führt ein Amt, das viele als lästig und gestrig empfinden: 15 Jahre nach dem Mauerfall sind die großen Geheimdienstskandale vorbei, es geht nun um die mühevolle Aufklärung der Stasi-Westarbeit, um politische Bildung, um Archivierung. Aus Osteuropa und Lateinamerika reisen Delegationen in die Aktenverwahranstalt am Alexanderplatz, um zu lernen, wie man mit dem Erbe einer Diktatur umgeht. Doch im eigenen Land wird Birthlers Behörde zu wenig geschätzt; und nach innen muss sie Sparsamkeit durchsetzen, Abläufe modernisieren. Schily, der der Ostdeutschen die Veröffentlichung von Stasi-Akten prominenter Westpolitiker per Ultimatum untersagen wollte, hat es ihr selten leicht gemacht.

Die Bürgerrechtlerin hat zuletzt eher leise agiert. Birthler, die sich im kommenden Jahr im Bundestag zur Wiederwahl stellen will, hat vielleicht zu selten erzählt, welchen Schatz sie auf 180 Kilometern Aktenlänge bewacht. Zwischen Decknamen und Registriernummern stecken Schicksale: Berichte von mutiger Opposition und Bürgersinn. Vor allem deshalb haben die Ostdeutschen 1989 die Stasi-Zentralen gestürmt und die Dokumente vor dem Reißwolf gerettet. Viele Westdeutsche haben sich zu wenig Mühe gegeben, diesen Mut als gemeinsames Erbe zu verstehen. Nun könnte es zu spät sein.

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