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Meinung: Zu treuen Händen

Polen und Deutsche müssen die Zukunft gemeinsam gewinnen Von Hans-Dietrich Genscher

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges wandte sich der Franzose Paul Claudel an die Deutschen: „Ihr Deutschen sollt Europa nicht beherrschen, und ihr sollt es auch nicht teilen wollen, sondern ihr Deutschen als Volk in der Mitte habt die Aufgabe, den Völkern um euch herum verständlich zu machen, dass Europa nur gemeinsam eine Zukunft hat.“ Besser kann die europäische Verantwortung Deutschlands nicht beschrieben werden. Und noch etwas dürfen wir Deutschen nie aus dem Auge verlieren. Man mag es einen Zufall nennen, man mag es als Weitsicht betrachten – ein Glücksfall war es in jeder Hinsicht, dass sich zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft im Jahre 1957 mit Luxemburg, Belgien und den Niederlanden, mit Italien, Frankreich und Deutschland drei kleinere und drei größere Staaten zusammenfanden. Die damals Handelnden wussten, die europäische Einigung würde nur dann erfolgreich sein, wenn sich kleinere und größere Staaten in Europa gegenseitig als gleichberechtigt und ebenbürtig verstehen. Diese Grundphilosophie war eine der Voraussetzungen für die Erfolgsstory „europäische Einigung“.

Natürlich gilt das für das größte Land Europas, das Land in der Mitte, mit den meisten Nachbarn nicht nur nach Westen, sondern genauso nach Osten. Die Bundesrepublik war deshalb gut beraten, sich stets als Anwalt der kleineren Mitgliedstaaten zu verstehen. Und noch etwas gilt es zu bedenken: Voraussetzung der europäischen Einigung war nicht nur die Versöhnung mit Frankreich, sondern auch die historische und strategische Grundentscheidung, gemeinsam mit Frankreich für die europäische Einigung zu handeln. Aus diesem historischen Grundverständnis heraus entstand 1991 das Weimarer Dreieck, in dem sich Frankreich, Deutschland und Polen in gemeinsamer Verantwortung sehen für die Einigung Europas. Das eröffnete eine große europäische Perspektive.

Die darin liegende Chance ist zumindest nicht genügend genutzt worden. Umso wichtiger ist es jetzt, die Missklänge im deutsch- polnischen Verhältnis zu überwinden. Die Entschließung des polnischen Parlaments, so unverständlich sie erscheinen mag, kam nicht aus heiterem Himmel. Jahrelang haben Akteure, die 1990 den deutsch-polnischen Grenzvertrag ablehnten und die später Einspruch gegen die Aufnahme Polens in die EU erhoben, das deutsch-polnische Verhältnis strapaziert. Die Diskussion von Eigentumsansprüchen aus den Vertreibungsgebieten in immer neuen Varianten – und das keineswegs nur durch die so genannte Preußische Treuhand: wer so etwas entfacht, darf sich über Überreaktionen auf der anderen Seite nicht wundern. In einem solchen Klima wirft der Gedanke eines nationalen Vertreibungszentrums, anstelle eines europäischen, Fragen auf.

Und wäre es, wenn man die Zukunft gemeinsam gewinnen will, nicht in der Tat besser, sich miteinander zu erinnern, als dass man Gefahr läuft, dass es gegeneinander geschieht? Krzysztof Skubiszewski, Bronislaw Geremek und Wladyslaw Bartoszewski haben ihre Stimme erhoben, um in Polen die Emotionen zu besänftigen. Das sollte eine positive Antwort aus Deutschland bekommen. Der Bundeskanzler hat dazu einen ernsthaften Versuch unternommen, übrigens nicht nur in Warschau, sondern auch in Prag. Auch derBundestag sollte seine Stimme erheben, um jedermann verständlich zu machen, dass die mit den Ostverträgen, mit der Schlussakte von Helsinki, mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990 und mit dem deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit eingeleitete Politik unumkehrbar ist. Heute geht es darum, dass Deutschland zusammen mit Frankreich und Polen die europäische Einigung voranbringt und dass es sich, wie in der Vergangenheit, auch in Zukunft als Anwalt der kleineren EU-Staaten versteht. Beitrittsländer wie die baltischen Staaten, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien warten auf ein solches Signal. Auch das Eintreten Deutschlands für einen europäischen Sitz im Sicherheitsrat neben denen Frankreichs und Englands könnte ein solches Signal sein.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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