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Zusammenleben mit Behinderten: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Unser Umgang mit Behinderten ist auch das: bemüht, zuweilen idealistisch. Kaum jemand wagt es, etwas Negatives zu sagen. Warum eigentlich? Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Ralf Nestler

Bunte Tücher schweben in der Luft, wedeln im Rhythmus der Hände, die sie schwenken. Eine junge Frau hüpft über schienbeinhohe Holzstangen, von denen sie einige hinunterreißt. Bälle fliegen hin und her, manche treffen ihr Ziel, manche nicht. Würden Sie applaudieren, wenn 15-Jährige ein solches Programm aufführen? Würden Sie applaudieren, wenn von den 15-Jährigen einige geistig und körperlich behindert wären?

Ich habe geklatscht, etwa so, wie ich bei einer Kita-Aufführung klatsche. Mit freundlicher Miene, aufmunternd nickend: „Bravo! Gut gemacht!“ Das war ernst gemeint, denn ich wusste, wie viel Mühe es die Artisten kostete, ihr Programm zu absolvieren. Ich applaudierte ihnen, nicht ihrem Geschick. War das richtig? Ich habe meine üblichen Erwartungen aufgegeben, habe die Behinderten im Vergleich zu „normalen“ Jugendlichen in ihrem Alter als „Schwächere“ behandelt.

Eine längere Beziehung kam nicht zustande

Ähnliche Gedanken dürften die nichtbehinderten Jugendlichen gehabt haben, die in dem Zirkusprojekt jedem Behinderten zur Seite gestellt worden waren. Sichtlich um Empathie bemüht schoben sie Rollstühle herum, zeigten sich begeistert, wie sich ihre Partner „einfach freuen“ können. Doch eine Beziehung über das Wochenende hinaus kam nicht zustande.

Selbst nach Jahren gelingt das nur selten, vor allem wenn es eine Beziehung sein soll, bei der man sich einigermaßen auf Augenhöhe begegnet. Das ist zumindest meine Erfahrung und Beobachtung: Bedingt durch die Arbeit meiner Eltern bin ich auf dem Gelände einer Einrichtung für geistig und körperlich Behinderte aufgewachsen. Keine Ahnung, ob es den Begriff Inklusion damals Ende der 1970er-Jahre in der DDR bereits gab. Es war eher ein innerer Impuls meiner Eltern, beispielsweise eine der Bewohnerinnen als Patentante für mich auszuwählen oder den Heiligabend stets mit Familie in einer der Wohngruppen zu verbringen. Ständig begegneten wir den Bewohnern und lernten sie dadurch immer besser kennen – auch ihre Charaktere.

Die Angepassten, die Lauten, die Verschwiegenen, die Fiesen

Zuerst die Angepassten, Gefälligen, die Wesenszüge trugen, die nach jahrzehntelanger Heimkarriere überdurchschnittlich ausgeprägt sind – um einfach besser durchzukommen. Die Lauten, die Polterer, die durch Körperlichkeit und Stimme klarmachen, dass sie einen der vorderen Plätze für sich reklamieren. Und die sich mit rührender Zärtlichkeit um andere hilfsbedürftige Bewohner oder auch ein Plüschtier kümmern, wenn niemand zuschaut. Die Leisen, Verschwiegenen, deren Gesichter tiefe Spuren eines Lebens tragen, von dem sie nur sehr selten erzählen. Natürlich auch die Falschen und Fiesen, die Schwächere piesacken und für eine Extraportion Nachtisch zu jeder Intrige bereit sind.

Diese Mischung von Menschentypen ist nicht überraschend, klar. Doch warum findet sie sich nicht in den Medien oder bei halböffentlichen Gesprächen? Wenn in Filmen geistig Behinderte vorkommen, dann fast immer in den Rollen „Opfer“ oder „Held“. Der Mordverdächtige, der wegen seines autistischen Verhaltens zunächst noch mehr Zweifel weckt – und am Ende natürlich unschuldig ist. Oder die Frau mit Downsyndrom, die mal wieder freundlich-lustig-pfiffig sein soll.

Scheinbar negative Zungenschläge werden tunlichst vermieden

In journalistischen Beiträgen sind diese Stereotype nicht ganz so ausgeprägt, doch entsteht auch dort der Eindruck, dass es unter Behinderten praktisch keine unangenehmen Zeitgenossen gibt. Ähnlich ist es bei Gesprächen über das Thema Behinderung. Tunlichst wird darauf geachtet, scheinbar negative Zungenschläge zu vermeiden. Stattdessen ist viel von „Bereicherung“ und „besonderen Begabungen“ die Rede. Sprechen wir so auffallend positiv über „normale“ Mitmenschen? Nein. Warum tun wir es, wenn es um geistig Behinderte geht?

Sie wissen selbst oft recht genau, was ihnen gelingt, wo sie Hilfe benötigen und dass sie manches gar nicht bewältigen. Das wirft die Frage auf, ob es wirklich im Sinn eines geistig behinderten Kindes ist, in einer Klasse zu sitzen, die zum Beispiel gerade die Binomischen Formeln durchnimmt, Nathan den Weisen oder die Zellteilung. Jeden Tag aufs Neue zu erleben, dass man selbst nicht das schafft, was die anderen schaffen: Das dürfte für die meisten demotivierend sein.

Individuelle Förderung für Behinderte - das weckt Neid

Laut Inklusionskonzept werden die betroffenen Schüler individuell betreut, vorzugsweise durch zusätzliche Fachkräfte. Die Realität indes sieht anders aus. Selbst wenn hier noch ein Durchbruch gelingt, wird umso deutlicher über Neid zu sprechen sein. Gerade in Berlin sind viele Schulen von der baulichen und personellen Ausstattung her am Limit. Es bedarf guter Argumente, um zu begründen, warum für einzelne Schüler großer Aufwand betrieben wird, ihre lernschwachen, nicht behinderten Mitschüler aber kaum Unterstützung erhalten.

Ideen zur Inklusion müssen mit der Wirklichkeit abgeglichen werden

Um Missverständnissen vorzubeugen: Zweifelsohne sollen geistig behinderte Kinder und Jugendliche eine gute Schulbildung erhalten, die es ihnen erlaubt, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Wobei man dabei auch keine Wunder erwarten sollte – so schmerzhaft das im Einzelfall auch ist. Es ist unerlässlich, die Ideen zur Förderung dieser Kinder mit der Wirklichkeit abzugleichen. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass in Inklusionsklassen Freundschaften entstehen, in denen geistig Behinderte und Nichtbehinderte ganz selbstverständlich miteinander umgehen, einander stärken und voranbringen. Am besten über Jahre hinweg, damit sie als Erwachsene eine Gesellschaft gestalten, in der Behinderungen keine Rolle mehr spielen. Wird dann noch geklatscht?

Der Autor ist Redakteur im Ressort Forschen des Tagesspiegels. Er kennt das Miteinander mit Behinderten seit frühester Kindheit.

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