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Politik: . . .und dann kam der 1. September

Wie der NS-Überfall auf Polen das Leben von Heide-Marie Fuldner, geborene Milkowska, adoptierte Lehmann bis heute bestimmt.

Wieder und wieder liest sie die drei polnischen Wörter von dem Zettel ab, den sie, seit die Fahrt begann, in ihrer Hand hält. Er ist schon ganz zerknittert. Polnisch ist nicht einfach.

„Wird er mich auch verstehen?“, fragt sie Maciek, einen polnischen Studenten, der sie begleitet und dolmetschen soll.

Als sie an einem Tag im August bei dem verabredeten Treffpunkt in Stettin ankommen, steht bereits ein älterer Herr auf der Treppe. Heide-Marie geht auf ihn zu und sagt dann die drei Wörter von dem zerknitterten Zettel: „Witaj kochany bracie.“ Sei gegrüßt, lieber Bruder.

Stanislaw registriert es nicht, als er seine Schwester in die Arme schließt. Nach fast 70 Jahren endet ein langes Warten, findet eine fast unmögliche deutsch-polnische Familie zusammen.

Sie sei immer unterwegs gewesen, sagt Heide-Marie Fuldner, genannt Heidi. Wenn sie genau rechnet, kommt sie auf 24 Wohnorte, seit sie 1945 aus ihrer Heimatstadt Gdingen flüchtete, bis sie schließlich nach Krefeld kam und blieb. In einem Haus in einer ruhigen Seitenstraße, mit ihrer Katze, die sich schnurrend an den Beinen reibt. An den Wänden hängen Fotos: Eltern, Kinder, Enkelkinder. Die Stimme klingt weich, wenn sie die abgebildeten Personen beschreibt. Auf dem Tisch stapeln sich Fotoalben und Mappen. „Unser Leben“, sagt sie. Mehrere Dutzend Jahre. Alles dokumentiert. Allerdings erst seit kurzem. Denn im Leben von Heidi gab es jahrzehntelang einen weißen Fleck.

Als Teenager durchsuchte Heidi aus Neugier Familiendokumente. Sie fand eine Geburtsurkunde. „Heide-Marie, geboren am 16. November 1942 im städtischen Krankenhaus in Gotenhafen.“ Der obere und untere Teil der Urkunde fehlten. Die sei im Krieg beschädigt worden, erklärte ihr die Mutter. Heidi machte sich keine Gedanken. Als sie 18 Jahre alt war, setzten sich die Eltern mit ihr hin. Verrieten ihr, was bisher unentdeckt geblieben war: Heidi war adoptiert. „Sie haben es mit solcher Liebe gesagt, dass es nicht wehtat“, sagt sie. Ihre Mutter zeigte ihr noch mal die Urkunde. Der obere und der untere Teil, die früher fehlten, waren nun mit einem Tesastreifen angeklebt, da stand nun der Name ihrer leiblichen Mutter: Ewa Danuta Milkowska, geb. Sajkowska. Ein polnischer Name.

Die komplizierte deutsch-polnische Familienverwirrung von Heide-Marie Fuldner, aufgewachsene Lehmann, geborene Milkowska, leiblicher Vater unbekannt, begann lange, bevor sie geboren wurde.

Als Polen nach Ende des Ersten Weltkriegs 1918 seine Unabhängigkeit wiedererlangte und einen Teil der alten Gebiete zurückgewann, entschied sich die polnische Regierung, aus dem kleinen Fischerdorf Gdynia eine Hafenstadt zu machen. Weil das nahe große Danzig zur Freien Stadt wurde, wollte sich der neu gegründete Staat selbst Zugang zur Ostsee schaffen. Hier wurden in den 20er Jahren Träume wahr und Blitzkarrieren möglich wie im Wilden Westen.

Damals kamen auch ihre Eltern, die sich später zu ihren nicht leiblichen erklärten, in die Stadt. Die Mutter, Elly Lehmann, geborene Anders, ist gebürtige Deutsche aus Tczew, Dirschau, einer Stadt, die damals noch von vielen Deutschen bewohnt wurde. Familie Anders war gutbürgerlich, der Vater besaß eine Fabrik, Ellys Brüder waren Juristen. Sie selbst wollte Journalistin werden und bekam einen Job in der Anzeigenannahme einer Tageszeitung in Danzig.

Immer wieder kam ein junger Pole zu ihr, um Anzeigen aufzugeben. Er wollte immer nur von Fräulein Anders bedient werden. Später erfuhr Elly, dass er oft auf sein Mittagessen verzichtete, um mit dem Geld eine neue Anzeige bezahlen zu können, die er gar nicht mehr brauchte. Die Deutsche und der Pole verliebten sich, und Wojciech Mikolajczyk hielt um die Hand von Elly an. Vergebens.

„Meine Tochter kriegen Sie nicht“, sagte der Vater. „Sie sind katholisch, wir Protestanten. Sie sind Pole, wir Deutsche. Und Sie haben nichts!“ Der Vater schickte seine Tochter zu Verwandten nach Berlin, damit die Beziehung auseinanderbrach. Wojciech folgte ihr, Ellys Tante half ihnen beim Treffen. Sie verlobten sich heimlich, und als der Vater starb, heirateten sie. Elly konvertierte. Die Brüder wandten sich von ihr ab.

Auf ihrem Krefelder Sofa zeigt Heidi ein Foto. Es zeigt ein Kaufhaus in der Hauptstraße Swietojanska. Das hat Wojciech mit einem Partner gegründet. „Das größte in Gdynia“, erzählt Heidi, „es war sechsstöckig, unten war ein Geschäft, oben ihre große Wohnung und darüber Mietwohnungen.“ Im Dachgeschoss wohnten Studenten der Seeschule in Gdynia, was sich später noch als sehr wichtig herausstellen würde. Mit dem Kaufhaus hielt Wojciech sein Versprechen an Elly: „Du wirst nie bedauern, dass du alle Konventionen gebrochen und mich geheiratet hast.“ Sogar Ellys Brüder waren beeindruckt und ließen sich vom Schwager einladen. Das deutsch-polnische Ehepaar genoss sein Glück und ließ sich dabei oft fotografieren: auf Bällen, bei Spaziergängen, im Laden.

Auf der Flucht 1945 nahm Elly ihre liebsten Erinnerungen mit. Darunter war auch ein Zeitungsartikel aus der Vorkriegszeit. In dem steht, dass das Kaufhaus das beste der Stadt sei. Dazu gab es ein Foto von den vielen Mitarbeitern. Einer von denen war Josef Lehmann, ein junger Mann aus Wejherowo, deutsch: Neustadt, einem kleinen Ort westlich von Gdynia, der im Kaufhaus Lehrling war – und ein Freund der Familie wurde. Wojciech vertraute ihm, Elly lud ihn zum Mittagessen ein. Von seinem Chef war Josef tatsächlich sehr beeindruckt. Und in dessen Ehefrau, die um elf Jahre ältere Elly, verliebte er sich heimlich.

Dann kam der 1. September 1939.

Wojciech und sein Bruder wurden sofort festgenommen, wie auch die übrige polnische Intelligenz in der Gegend. Elly durfte ihren Mann nicht besuchen. Die Nazis zwangen sie, ihren Mädchennamen wieder anzunehmen. Schließlich, nach Monaten, schaffte es Josef Lehmann, Wojciech Mikolajczyk in der Haft zu besuchen. „Ich weiß, dass ich nicht wieder rauskomme“, sagte der zu seinem Lehrling. „Und ich weiß, Sie verehren meine Frau. Sorgen Sie dafür, dass nicht alles verloren geht, was ich für sie gebaut habe.“

1941 haben Elly und Josef geheiratet. Mit schwarzen Perlen ist sie auf den Hochzeitsfotos zu sehen. Ein Trauersymbol für Wojciech.

Elly Lehmann konnte keine Kinder haben, also dachten sie an eine Adoption. Josef wollte es schnell erledigen. Das Kaufhaus wurde nicht konfisziert, weil es nun ja Deutschen gehörte. „Warenhaus Anders und Lehmann“ hieß es nun. Es stand auch nicht mehr in der Swietojanska-Straße, sondern in der Adolf-Hitler-Straße. Und nicht in Gdingen, sondern in Gotenhafen. Aber die Nazis ließen die beiden immer noch nicht in Ruhe. Sie wollten Josef für sich gewinnen. Übten Druck aus, damit er sich der SS anschloss. Doch Josef trat lieber der Wehrmacht bei. Er musste an die Front, doch davor wollte er sein Töchterchen im Haus haben. Es war Januar 1943.

Elly wollte nicht, dass jemand erfuhr, dass das Kind adoptiert wurde und trug ein Kissen auf dem Bauch, als ob sie schwanger wäre. Kurz bevor Josef abreiste, holten sie das Töchterchen nach Hause. Heide-Marie war wenige Monate zuvor geboren worden und lebte bei einer Pflegefamilie. Von ihren leiblichen Eltern wussten sie wenig. In der Geburtsurkunde war nur der Name der Mutter zu sehen. Ewa Danuta Milkowska, geb. Sajkowska. Buchhalterin. Verheiratet. Aber der Ehemann war nicht der Vater.

„Meine Eltern erzählten mir noch, dass mein Vater ein deutscher Offizier war“, sagt Heidi. Eine Polin, deren Mann im Krieg ist, und ein deutscher Offizier – das ging natürlich nicht. Angeblich wurde er, der Polenfreund, zur Strafe nach Osten geschickt, er wollte Ewa heiraten, wenn er zurückkommt, aber er kam nicht zurück.

Heidi sagt: „Als ich erfuhr, dass meine leibliche Mutter Polin war, habe ich mich gefreut. Ich musste nicht befürchten, dass sie etwas auf dem Gewissen hat.“

Intensiv gesucht hat sie nicht nach ihrer polnischen Familie. Aus Angst, damit ihre Adoptiveltern zu verletzten und aus Angst, die polnische Familie würde sie „als Deutsche ablehnen“. Und außerdem: Warum haben die nie nach ihr gesucht?

Manchmal versuchte sich Heidi vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie endlich ihre leibliche Mutter gefunden hätte. Sie stellte sich vor, wie die Mutter in einer Tracht vor einem kleinen, ärmlichen Häuschen saß und arbeitete. Zierlich und gebeugt von der schweren Arbeit. Sie stellte sich auch vor, wie sie zu ihr gehen, wie sie ihre Hände küssen würde.

Irgendwann war die Sehnsucht so groß, dass sie mit ihren Eltern sprach. Mit ihrem Vater Josef Lehmann reiste sie 1984 nach Polen. Nach Gdingen, Dirschau, Neustadt. Sie gingen zu dem Haus, in dem Elly erst mit Wojciech und dann mit Josef gelebt hatte. Es gab dort unten immer noch einen Laden und oben Mietwohnungen. Und dort, wo die Familie einst wohnte, befand sich ein italienisches Konsulat. „Mein Papi wollte unbedingt kurz reingehen und sich die Räume anschauen, wo ich laufen gelernt habe. Und wir wurden reingelassen.“

In Gdingen trafen sie Verwandte des Vaters, die nach dem Krieg die polnische Staatsangehörigkeit angenommen hatten und geblieben waren. Wenige Monate später erhielt sie von denen einen Brief.

Zwar hatte man nichts Neues über die leibliche Mutter von Heidi erfahren, aber dafür, dass es zwei Halbbrüder gebe. Geschwister! „Ich bin vor Freude rotiert!“, erzählt Heidi, „ich war kein Einzelkind mehr. Ist das nicht wunderbar?“ Doch damit war die Freude zu Ende. Die Brüder konnten nicht ausfindig gemacht werden. Die Ämter lehnten alle Anfragen ab. Irgendwann gab Heidi die Hoffnung auf. Ihre Eltern starben. Die Wende kam.

Heidi fuhr wieder nach Polen. Doch es brachte nichts. Dann saß sie eines Tages im Warteraum bei einem Zahnarzt und entdeckte beim Herumblättern in den Zeitungen einen Text über eine Gruppe polnischer und deutscher Studenten aus Frankfurt (Oder), die bei der Suche nach Familienangehörigen in Polen halfen.

Heidi bewahrt den Artikel bis heute auf, zusammen mit den wichtigsten Erinnerungsstücken. Sie rief in Frankfurt an und erzählte Maciek, einem der Studenten, von sich. „Dass ich eine ältere Dame bin, die ihre polnische Familie sucht. Und dass ich das jetzt machen muss, weil ich nicht weiß, wie viel Zeit ich noch habe.“ Heidi ist schwer krank. „Jetzt oder nie“, sagte sie dem Studenten. „Ich muss es noch schaffen.“

Als Maciek nach Monaten anrief, erwartete sie nichts Neues. Aber Maciek sagte: „Ich habe Ihren Bruder Stanislaw gefunden. Er lebt in Stettin, nicht weit von der Grenze entfernt.“ Sie brach in Tränen aus. „Ich konnte nicht glauben, dass ich so viele Jahre erfolglos suchte und er plötzlich gefunden wurde. Ich dachte mir: Mein Gott, du bist so gut. Danke für dieses Geschenk.“

Maciek sprach mit Stanislaw. Langsam fügte sich aus den Puzzleteilen ein Bild zusammen. Stanislaw ist gar nicht verwundert, dass er eine Halbschwester in Deutschland hat, doch ihn überrascht, dass sie lebt. Denn die polnische Familie war fest überzeugt, dass Elly und Heidi Ende Januar 1945 auf dem versenkten Kreuzfahrtschiff „Wilhelm „Gustloff“ umgekommen seien.

„Deshalb suchten sie mich nicht, das wurde mir plötzlich klar“, sagt Heidi.

Im Januar 1945, als die Russen immer näher kamen und Josef noch immer an der Front war, wollte Elly mit dem Kind weg. Sie hatte Tickets für die Gustloff. Doch dann kam einer der ehemaligen Studenten der Seeschule und sagte, es sei gefährlich, jetzt mit einem großen Schiff zu flüchten. Seine Frau schickte er mit einem Fischkutter. Es gäbe dort auch einen Platz für Elly und ihre Tochter. So verzichtete Elly auf ihren Platz auf der Gustloff.

Tagelang waren sie mit dem Kutter unterwegs, nah an der Küstenlinie. Es war kalt. Als die Gustloff, getroffen von Torpedos eines sowjetischen U-Boots, sank, soll die Mutter Schreie gehört und Lichter gesehen haben.

Elly und Heidi waren also am Leben. Aber der Name Lehmann stand auf der Passagierliste und nicht auf der Liste mit den Überlebenden.

„Hübsch ist Mutti, nicht wahr?“, fragt Heidi. Sie schaut immer wieder auf das Foto. Das erste von ihrer leiblichen Mutter, das sie hat. Ein richtiges Bild. Immer noch unfassbar. Keine kleine, müde Frau, wie sie Heidi immer in Gedanken sah. Ewa Danuta Milkowska, geb. Sajkowska, ist auf dem Foto sehr schön und elegant. In einem figurbetonten Kostüm und in Pumps, mit hübsch frisiertem Haar. Selbstsicher schaut sie in die Kamera. Ein wenig wie Elly, findet Heidi.

Der Ehemann von Ewa überlebte den Krieg. Als er nach Hause zurückkam, ließen sie sich scheiden. Später hat Ewa noch mal geheiratet und ist nach Jahren mit ihrem Mann nach Deutschland ausgewandert. Sie lebte in Süddeutschland, während ihre Tochter sie in Polen suchte. Erst 2001 starb sie dort. Das tut Heidi weh. „So nah war sie, und ich habe sie nie kennengelernt.“ Auch einer der Brüder ist gestorben. Doch Stanislaw und Heidi konnten sich rechtzeitig finden.

Am Abend bevor sie zu Stanislaw nach Stettin fuhr, erzählte sie ihren Kindern, dass sie einen Bruder hat. Dass sie ihn gefunden hat. Erst dann konnte sie an ihr Glück glauben. Viel erfahren hat sei bei diesem ersten Treffen nicht. „Wir haben die ganze Zeit geweint und Hände gehalten.“ Er spricht kein Deutsch, sie kein Polnisch. Er erzählte mithilfe von Maciek, dem Helfer und Übersetzer, dass die leibliche Mutter sie nie verleugnet habe. Das ist für Heidi wichtig. Stanislaw brachte ihr eine Mappe mit Fotos zum Treffpunkt mit. Von deren Mutter, deren Brüdern, Großenkeln. Zumindest konnte sie ihre polnische Mutter auf diese Weise kennenlernen, ihre Fotogalerie zu Hause in Krefeld vervollständigen. Und nun?

Sie sagt, sie werde das Grab der Mutter besuchen. Sie werde eine Rose hinlegen, die Erde anfassen und wissen, dass sie ihre Geschichte erfahren, dass sie es geschafft hat.

Agnieszka Hreczuk

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