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Vertrieben von den Nazis und danach ein zweites Mal diskreditiert: Berthold Winter, heute 93

© Thilo Rückeis

70 Jahre nach Ende von Nazi-Deutschland: Rückkehr? Rückschlag!

Vor dem NS-Terror floh Berthold Winter nach Südamerika, kam aber zurück und wollte in Berlin ein Geschäft aufbauen. Hilfe wurde zugesagt – blieb aber aus. Wiedergutmachung? Wenn er das Wort hört, wird er heute noch wütend.

Die alte Mutter saß neben ihm, wenn er abends nach Ladenschluss seine Briefe tippte. Beschwerden an die deutsche Politik und die Berliner Verwaltung. Die Mutter feuerte ihn an: „Lass dir nichts bieten!“

Sie wusste ja noch aus eigenem Erleben, um was es ging. Und mit wem sie es zu tun hatten. Sie war erwachsen gewesen, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, als Juden fliehen mussten oder ermordet wurden. Das lag jetzt zwar Jahrzehnte zurück, aber die Menschen im Land waren mehrheitlich doch noch dieselben, und die von der Arisierung profitiert hatten, noch im Geschäft. „Lass dir nichts gefallen!“, sagt sie also und „Schlag zurück, so viel du kannst!“

Der Sohn hatte Kohlepapier hinter den Bogen mit dem Briefkopf seiner Sprachenbuchhandlung in der Knesebeckstraße in Charlottenburg gespannt, damit er gleich einen Durchschlag des Schreibens für sich hatte. Unter dem Tisch saß sein Hund Ali, ein Boxer. Wenn Winter laut seufzte beim Schreiben, murrte der Hund häufig mit. „Er wusste nicht, worum es ging“, sagt Berthold Winter, der heute 93 Jahre alt ist. „Aber er spürte die Spannung.“

Es ging um das Verhältnis von boomender Wirtschaft und den Enteigneten

Berthold Winter ist ein ruhiger, besonnener Mann, der genau überlegt, was er sagt. Wenn ihm ein Name nicht einfällt, geht er mit vorsichtigen Schritten, die Hand erst auf die nächstgelegene Sessellehne gestützt, zum Computer, den er „Kiste“ nennt, und schaut im Internet nach. Heute kann er dort seine damals geschriebenen Briefe lesen. Das Leo Baeck Institute in New York, das Schicksale von NS-Verfolgten erforscht, hat einen Teil davon digitalisiert und online gestellt. Ganz oben sichtbar ist der Briefkopf seiner Buchhandlung nebst Zusatz „Vormals Buchhandlung und Antiquariat Arnold Winter. Gegr. 1920“ mittig in rot.

Winters Briefe verhandeln das Verhältnis von Nachkriegsdeutschland und den deutschen Juden, von der boomenden Nachkriegswirtschaft und den enteigneten Vertriebenen. Das war in den 1960er Jahren geprägt vom Unwillen, sich mit den Holocaust-Überlebenden und zurückkehrenden Exilanten auseinanderzusetzen. Entsprechend verletzt und verletzend auch waren manche von Winters Briefen. „Die Analyse dessen, was die Nazis mit uns angestellt haben, (ist) nicht zu trennen von dem, was auch heute noch hier in Berlin mit mir geschieht“, schreibt er einmal. Aber welcher Ton ist angemessen, wenn man als Nazi-Vertriebener und Enteigneter zurückkehrt ins Täterland und dort beim Versuch, sich wieder eine Existenz aufzubauen, abermals diskreditiert, geschnitten und um sein Recht betrogen wird?

Winter hat über seine Heimkehr gegen alle Widerstände ein Buch geschrieben („Schwierige Rückkehr“, Metropol Verlag, 2013), und bis heute ist das Leben von Juden in Deutschland immer wieder ein Thema in den Nachrichten, meist als Reaktion auf antisemitische Vorfälle, gerade erst ging es um die Frage, ob Juden überall in Berlin ihre Kippa tragen könnten oder nicht.

Rückkehrer waren vor allem auch Konkurrenten. Und so behandelte man sie

Vertrieben von den Nazis und danach ein zweites Mal diskreditiert: Berthold Winter, heute 93
Vertrieben von den Nazis und danach ein zweites Mal diskreditiert: Berthold Winter, heute 93

© Thilo Rückeis

Winter hat sich inzwischen zurückgezogen. Im Jahr 70 nach Kriegsende lebt er mit seiner Lebensgefährtin am Stadtrand in Kladow in einem kleinen Haus. Wer mit dem Bus kommt, fährt schon an weiten Feldern vorbei, bevor nochmal eine Siedlung mit Häusern beginnt. Hier gibt es kein Mahnmal und keine Gedenktafeln, die an die Kämpfe der NS-Verfolgten erinnern, oder an den Mut der Opfer, die sich auch nach 1945 gewehrt haben.

In diesem Jahr 70 nach Kriegsende wurde bereits und wird weiterhin wieder an die historische Schuld erinnert, und das neue Deutschland präsentiert sich wieder als Land, das aus seiner Geschichte gelernt hat, als Land der Wiedergutmachung. Winter allerdings sagt, wenn er das Wort „Wiedergutmachung“ höre, werde er heute noch wütend. Denn seine Geschichte erzählt von einer ganz anderen Erfahrung.

Geboren wird Berthold Winter 1921. Der Vater Arnold Winter ist Leiter der Buchabteilung im KaDeWe, die Mutter Herta ist dort für Jugendliteratur verantwortlich. Gemeinsam erarbeiten sich die Eltern einen eigenen Laden mit Leihbücherei und Antiquariat in Berlin-Mitte. Sie besaßen an die 10 000 Bücher.

Erst werden die Bücher verbrannt, dann wird das Geschäft enteignet

1700 bis 1800 davon werden 1933 für die Bücherverbrennungen abgeholt. Ende 1935 wird den Eltern der Buchladen weggenommen, und die Familie flieht kurz darauf nach Wien zur Familie des Vaters. Bei der Flucht dürfen Eltern und Sohn je zehn Reichsmark mitnehmen. Das übrige Vermögen wird dem Finanzamt übertragen. Erstausgaben von Stefan Zweig und Emil Ludwig, Kupferstich, eine Radierung von Käthe Kollwitz bleiben zurück. In einer Konfektschachtel, zusammen mit ihren Nähutensilien, nimmt die Mutter die Briefe über den Zwangsverkauf mit ins Exil. Sie gehören nach Krieg und Zerstörung zu den wenigen Nachweisen für die einstige Existenz.

„Der Bahnsteig am Anhalter Bahnhof war menschenleer“, erinnert sich Berthold Winter an die Abreise nach Wien.

Die Familie bleibt dort nicht lange. Als bereits 1936 auch in Österreich die Nationalsozialisten an die Regierung kommen, geht es für sie weiter nach Argentinien, nach Buenos Aires. Wieder versucht sich die Familie im Buchhandel, erst mobil ohne Laden. Zu dritt leben sie in einem Zimmer von sechs Quadratmetern. Sohn Berthold restauriert verschlissene Bücher mit dem Stoff eines Kleides der Mutter, um das Sortiment zu erweitern. Später gelingt es ihm, einen Laden zu eröffnen. Doch die Eltern fassen auch in den vielen kommenden Jahren nie wirklich Fuß in Argentinien.

Im deutschen Konsulat in Buenos Aires gibt es einen Schalter für Wiedergutmachungsfragen. Berthold Winter fragt dort nach Unterstützung für seine Eltern. Der Beamte teilt ihm mit, dass zurückkehrende Geschäftsleute in Deutschland mit vergünstigten Krediten und öffentlichen Aufträgen rechnen könnten. Winter falle als Sohn des enteigneten Inhabers gewiss auch darunter. Tatsächlich sieht das Bundesentschädigungsgesetz vor, NS-Verfolgte, die in Deutschland wieder ein Geschäft aufnehmen, bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu bevorzugen, bis sie entsprechend ihrer früheren Verhältnisse in das wirtschaftliche und soziale Leben „wiedereingegliedert“ sind.

Winter glaubt dem deutschen Beamten. Warum auch nicht? Es sind inzwischen die 60er Jahre. Die bescheidenen Rentenzahlungen für persönlichen Schaden an Leben, Gesundheit, Freiheit und Ausbildung sind auch irgendwann gekommen. Jahre nach dem Antragsschreiben an das Entschädigungsamt in Berlin, aber immerhin. Als die Eltern aus gesundheitlichen Gründen nach Deutschland zurückkehren, will sie Berthold Winter zuerst nur besuchen und beschließt dann, an sein geraubtes Erbe anzuknüpfen und sich mit einer Sprachenbuchhandlung in der Stadt wieder zu etablieren. „Nach Deutschland zurückgekommen bin ich für meine Eltern“, sagt Winter heute. „Geblieben bin ich für mich.“

Er wird geschnitten, verschuldet sich

Trotz allem, muss man wohl sagen. Denn die West-Berliner Wirtschaft hat auf jüdische Rückkehrer nicht gewartet. Winters Antrag auf einen Wiederaufbaukredit wird abgelehnt. Etwa 600 Briefe schreibt er an öffentliche Einrichtungen, um sich als Lieferant vorzustellen. In vollem Glauben an seinen Rechtsanspruch verweist er auf die Möglichkeit, ihn als NS-Verfolgten bei der Auftragsvergabe zu bevorzugen. Der damalige Direktor der Amerika-Gedenkbibliothek habe diesen Verweis als Erpressung gedeutet, erinnert sich Winter. Andere antworten, sie seien mit den bestehenden Berliner Lieferanten sehr zufrieden. Manchmal kommen kleine Lieferaufträge von Bezirksbibliotheken an die Buchhandlung. Andere Aufträge werden in Aussicht gestellt, kommen aber nur selten zustande. Winter macht Schulden.

Im Radio hört er, so erinnert er sich, den Berliner Senator Dietrich Spangenberg, der anlässlich einer Gedenkveranstaltung für KZ-Opfer die vertriebenen Bürger aufruft, nach Berlin zurückzukehren und an der „Schicksalsgestaltung“ der Stadt teilzuhaben. Zeitgleich agitiert in der Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung ein Buchhändler gegen ihn, der selber gegenüber seinen Mitarbeitern den Holocaust leugnet.

Winter flüchtet nach vorn: In einem Rundschreiben an alle öffentlichen Einrichtungen, die für ihn als Auftraggeber infrage kommen, verweist er auf seinen Status als NS-Verfolgter und die Zusage von Politikern und Repräsentanten Deutschlands, ihn mit öffentlichen Aufträgen zu unterstützen. Daraufhin wird er 1972 von der Verleger- und Buchhändlervereinigung wegen unlauteren Wettbewerbs verklagt. Das Landgericht Berlin erlässt erst eine einstweilige Verfügung, verwirft später aber die Klage.

Späte Einsicht, späte Aussöhnung

Vertrieben von den Nazis und danach ein zweites Mal diskreditiert: Berthold Winter, heute 93
Vertrieben von den Nazis und danach ein zweites Mal diskreditiert: Berthold Winter, heute 93

© Thilo Rückeis

Winter hat, das lernt er jetzt, als Sohn des Buchladeninhabers nach dem Entschädigungsgesetz von 1953 keinen Anspruch auf öffentliche Aufträge. Aber er kann nachweisen, dass ihm Unterstützung durch öffentliche Aufträge zugesagt wurde. Erst Jahre später wird er erfahren, dass alle öffentlichen Einrichtungen über die einstweilige Verfügung gegen ihn informiert wurden. Nicht aber darüber, dass ihm das Gericht Recht gegeben hat.

Acht Jahre nach seiner Rückkehr nach Berlin erhält Winter eine einmalige Zahlung aus dem Härteausgleichsfonds des Berliner Entschädigungsamts in Höhe von 25 000 D-Mark (rund 12 500 Euro) und ein Darlehen von 30 000 D-Mark (15 000 Euro), verzinst mit drei Prozent. Winter verbraucht das ganze Geld, um die Schulden abzubezahlen, die sich seit seiner Rückkehr mit dem Buchladen angesammelt haben. Es ist die Zeit, in der der Berliner Senat mit Steuerbegünstigungen, Zulagen, Überbrückungsgeld und zinslosen Darlehen Arbeitskräfte und Unternehmen aus anderen Teilen Deutschlands in die Mauerstadt holen will. Öffentliche Aufträge, um die Selbstständigkeit des NS-Verfolgten Berthold Winter auf eine solide Basis zu stellen, werden weiter verwehrt.

Winter macht Schulden bei der Krankenkasse und beim Finanzamt. Er kann die Raten für das Darlehen aus dem Härtefonds des Entschädigungsamts nicht mehr bezahlen. Erst werden sie von seiner Entschädigungsrente abgezogen, dann wird das Darlehen aufgekündigt. Die Verlage beliefern ihn nicht mehr, zeitweise wird sein Bankkonto gesperrt und die Buchhandlung gepfändet.

„Mir wuchs alles über den Kopf“, erinnert sich Winter. Diese Ungerechtigkeit, diese Unverschämtheit. Winter steckte voller Wut, Schmerz und auch Verzweiflung über das Versagen von Nachkriegsdeutschland. Er keilte zurück.

Die Vergangenheit finster, die Gegenwart "blütenrein"? Nicht mit ihm

Als Mitte der 1980er die Ausstellung „50 Jahre Nürnberger Gesetze“ geplant wird, droht er damit, einen Bericht über seine Erlebnisse zu verteilen. Durch die Ausstellung solle ja nicht der Eindruck erweckt werden, die Gegenwart sei „blütenrein und unschuldig“ schreibt er an die Organisatorin, und mit den Nazis sei auch alle Schuld dahingegangen.

Und dann ändert sich die Lage doch. Neue Verantwortliche übernehmen Führungspositionen, eine neue Generation lässt ein neues Denken zu. Die Berliner Verleger- und Buchhändlervereinigung, schrieb am 14. Februar 1983 an die Verlage und Zwischenhandelsfirmen: „Herr Winter hat durch Fehler eines früheren Vorstandes der BVB Schäden an seinem guten Ruf als Kaufmann erlitten, für deren Geltendmachung zwar die gesetzlichen Fristen abgelaufen waren, für deren Neutralisierung auf wirtschaftlichem Gebiet wir uns jedoch verpflichtet fühlen.“

Und als Winter gerade dabei ist, seinen Fall vor die Europäische Menschenrechtskommission zu bringen, erhält er finanzielle Unterstützung vom Senat. Er kann Gerichts- und Anwaltskosten bezahlen und einen ersten Teil der Schulden begleichen. Im Jahr 1987, 23 Jahre nach seiner Rückkehr, Winter ist jetzt 66 Jahre alt, zieht die Bildungsverwaltung mit Aufträgen nach: Fünf Jahre lang beliefert Winter jährlich für 200 000 D-Mark (100 000 Euro) Berliner Stadtbibliotheken, Krankenhaus-, Gefängnis- und Werksbüchereien. Die Aufträge ermöglichen es ihm, sämtliche Schulden zu tilgen. 1993 spricht das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen ihm 12 000 D-Mark (6000 Euro) zu. Winter schätzt den wirtschaftlichen Schaden seiner Familie auf ein Vielfaches, aber auf Anraten seines Anwaltes stimmt er zu. Im selben Jahr noch übergibt der 72-Jährige seine Buchhandlung. Von zu Hause aus betreibt er bis 2001 einen Versandbuchhandel mit Spezialisierung auf Exil-Literatur und bietet Dienste zur Literaturrecherche an. Briefe verschickt er längst per Email und mit „cc“ an mehrere Empfänger.

Alle Prozesse hat er verloren, "aber ich habe sie geführt", sagt er

20 Prozesse hat Berthold Winter in den 1970er und 1980er Jahren geführt, erst alleine, später mit Hilfe eines ehrenamtlich arbeitenden Anwalts. Er hat alle Berliner Bezirke, die Forschungs- und Universitätsbibliotheken und andere Einrichtungen verklagt. Aktenordner um Aktenordner dokumentieren seinen Kampf gegen die deutschen Behörden. „Ich habe alle Prozesse verloren“, sagt Winter, „aber ich habe sie geführt.“ Dem Land, dessen heutiger Reichtum teilweise noch auf dem Unrecht von damals basiert, hat er damit einen Dienst erwiesen, weil er ihm nicht gestattet hat, bequem zur Tagesordnung überzugehen. Er hat auf den Versprechen von Wiedergutmachung, Wiedereingliederung bestanden.

Wie ein Dokument der Unbeugsamkeit hängt unter der Klingel am Zaun seines Hauses bis heute ein Schild. Darauf steht: „Berthold Winter. Buchhändler. Verlagsauslieferungen. Import-Export. Versand“. Sein ganz persönliches Denkmal.

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