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Aufregender erster Schultag. Kinder mit und ohne Behinderung können erfolgreich gemeinsam lernen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.

© Imago/epd

80. Deutscher Fürsorgetag: "Inklusion ist keine Utopie"

Teilhabe beginnt mit gleicher Bildung für alle. Der internationale Blick zeigt: Das kann gelingen.

Aasai – der eigentlich anders heißt – sitzt unruhig auf seinem Stuhl. Er versucht, der Englischstunde in einem Förderzentrum mit dem Schwerpunkt Lernen zu folgen. Hier werden Kinder unterrichtet, die das Gesetz so definiert: „im Lern- und Leistungsverhalten dauerhaft beeinträchtigt“. Die neun Schüler der Klasse 5b erhalten eine besondere pädagogische Förderung, wie es in der Fachsprache heißt. Aasais Lehrerin spielt auf einer Kassette immer wieder eine Szene vor, in der eine Frau erklärt, dass ihr Arm schmerzt: „My arm hurts.“

Und der Kopf?, fragt ein Mann. „Does your head hurt?“ Nein, der nicht: „No, my head doesn’t hurt.“ Dann fragt die Lehrerin die Schüler der Reihe nach: „Does your head hurt?“ Aasai weiß die Antwort sofort. Also wird er nicht mehr gefragt – bis zum Ende der Stunde. Die Zeit vergeht quälend langsam, nicht nur für Aasai, auch für uns Beobachter. Der Junge langweilt sich, fängt an zu stören und wird streng ermahnt.

Aasais Geschichte ist kein Einzelfall. Seine Lehrerin wird später erzählen, dass seine Lernfähigkeit unter seinem „Störtrieb“ leide. Das habe natürlich auch mit seiner Familie zu tun: tamilische Flüchtlinge. Niemand spreche Deutsch. Das sei „nicht förderlich“ für Aasai und verstärke seine Lernschwierigkeiten.

Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung

Ohne Bildung ist Teilhabe in unserer Gesellschaft nicht denkbar. Die jedoch wird vielen Jungen und Mädchen von Anfang an verbaut – und das oft in der guten Absicht, Kinder mit Lernschwierigkeiten besonders zu fördern. Dabei ist die Aufgabe des Staates klar definiert: Er muss jedem Menschen eine angemessene Bildung ermöglichen. Das gebieten nicht nur ökonomische Vernunft, moralische oder sozialpolitische Überzeugung. Es handelt sich vielmehr um ein weltweit anerkanntes Recht.

Dieses Recht wird verletzt, wenn Menschen aufgrund ihrer sozialen und ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts oder einer Behinderung in einem Bildungssystem schlechtere Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen haben als andere.

In Deutschland werden heute konstant vier bis fünf Prozent aller Schüler wegen einer attestierten Behinderung an einer Sonder- oder Förderschule unterrichtet. Das ist eine im Vergleich der westlichen Staaten extrem hohe Quote, die je nach Bundesland allerdings sehr unterschiedlich ausfällt. Etwa 40 Prozent der Förderschüler besuchen eine Schule für Lernbehinderte, das sind Kinder, bei denen eine deutliche Abweichung von den Leistungen Gleichaltriger diagnostiziert wird.

Wie bei Aasai spielt der sozial-familiäre Hintergrund dabei eine entscheidende Rolle: An Förderschulen sind Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien und solchen mit Migrationshintergrund deutlich überrepräsentiert.

Wer eine Sonderschule besucht, wird fürs Leben stigmatisiert

Die Kritik an der gesonderten Beschulung ist nicht neu, aber inzwischen durch eine Reihe von Studien – nicht nur des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) – untermauert. Über 75 Prozent der Schüler verlassen die Förderschulen ohne qualifizierenden Abschluss. Sie bilden den harten Kern der Gruppe von Schulabgängern, die auf dem regulären Arbeitsmarkt selbst bei einfachen Jobs keine Chance haben und oft ihr Leben lang auf staatliche Unterstützung angewiesen bleiben.

Wer eine Sonderschule besucht, wird fürs Leben stigmatisiert. Der reduzierte Lehrplan, der sich nicht (mehr) am Lernniveau der Regelschulen orientiert, führt für einzelne Kinder zu einer klaren intellektuellen Unterforderung. Die Schüler geraten in eine Abwärtsspirale aus sozialer Ausgrenzung und reduziertem Anforderungsniveau, die ihre Probleme weiter verstärkt.

Das muss sich ändern. Kinder wie Aasai haben ein Recht darauf, an Regelschulen gemeinsam mit Schülern ohne Beeinträchtigungen unterrichtet zu werden. Sie sollen dabei besondere Unterstützung erhalten, um ihre Potenziale zu entfalten. Das schreibt Artikel 24 der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vor. Der Artikel statuiert ein Recht auf „inklusive“ und „hochwertige“ Schulbildung für alle – auch für Kinder mit Behinderung.

Doch die Bundesländer tun sich mit der Umsetzung dieses Rechts schwer. Die Schar der Kritiker ist groß. Teilweise wird behauptet, Inklusion sei nur eine schöne Vorstellung, eine Utopie, die in der Praxis niemals erreicht werden könne. Der gemeinsame Unterricht schade vielmehr den Kindern mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten ebenso wie den leistungsstarken Schülern, die ihre Potenziale nicht mehr entfalten könnten, weil sie durch die Behinderten aufgehalten würden.

Inklusion und gute Schulleistungen stehen in keinem Widerspruch

In diesen Einwendungen zeigt sich weniger die oft bemühte Erfahrung der Schulpraxis, als vielmehr die Beschränktheit der nationalen Wahrnehmung. Die Behindertenrechtskonvention ist alles andere als ein theoretisches Konstrukt. Sie basiert auf praktischen Erfahrungen in vielen Ländern. In Staaten wie Australien, Großbritannien oder den skandinavischen Ländern wird seit Langem der größte Teil von Kindern mit Behinderungen an Regelschulen unterrichtet.

Kanada und Neuseeland haben ihr Schulsystem grundsätzlich auf Inklusion umgestellt. Dies sind übrigens alles Länder, die in internationalen Schulvergleichen wie Pisa recht ähnlich, teilweise deutlich besser abschneiden als Deutschland.

Der internationale Blick zeigt: Inklusion ist keine Utopie. Und ebenso wichtig: Inklusion und gute Schulleistungen stehen in keinem Widerspruch. Auch in Deutschland gibt es eine Reihe von Schulen, die Inklusion umsetzen. Eine davon ist die Sophie-Scholl-Schule in Berlin-Schöneberg. Dort gibt es Klassen, in denen Jugendliche mit körperlichen Behinderungen und solche mit besonderen Lernschwierigkeiten gemeinsam mit Schülern ohne Beeinträchtigungen unterrichtet werden.

Der Unterricht wird von zwei Lehrkräften geleitet, von denen zumindest eine über eine sonderpädagogische Ausbildung verfügt. Manch einem, der die Förderschule vielleicht ohne Abschluss verlassen hätte, gelingt es hier, zum allgemeinen Klassenniveau aufzuschließen. Und auch die anderen Kinder profitieren vom gemeinsamen Lernen. International wie national gibt es gute Beispiele, wie die praktische Umsetzung der Inklusion gelingen kann. Damit das Recht auf Bildung für Kinder wie Aasai verwirklicht wird.

Der Autor ist promovierter Mercator Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und arbeitet zu Fragen des Verfassungsrechts, Bildungsrechts und der Rechtssoziologie.

Mit der „Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im internationalen Vergleich“ beschäftigt sich auf dem Fürsorgetag ein Workshop am 17. Juni, 9 bis 11 Uhr.

Michael Wrase

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