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© Ullstein/P.S.I. Bonn

90. Geburtstag: Richard von Weizsäcker: Kultur ist Politik

Wenn die Deutschen ein ideales Staatsoberhaupt hätten erfinden dürfen, wäre Richard von Weizsäcker herausgekommen. Wie kaum ein anderer hat er das Land als Bundespräsident geistig geprägt. Am Donnerstag wird er 90.

Seine Präsenz in der Öffentlichkeit gibt keinen Anlass, ihm seine Jahre zu glauben, und überhaupt macht es Mühe, in Richard von Weizsäcker den alten Herrn zu sehen, der er fraglos ist. Bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt zum Beispiel sieht man ihn aufmerksam in der ersten Reihe, den Kissinger- Preis in der American Academy nimmt er entgegen, nachdem er gerade aus Saudi- Arabien zurückgekehrt ist, und erst vor drei Wochen saß er beim Treffpunkt Tagesspiegel auf dem Podium, um am Tage darauf schon wieder seine Runde über die Leipziger Buchmesse zu ziehen, wo gleich drei Bücher über ihn angeboten wurden. Das alles illustriert ein staunenswertes Phänomen: der Privatmann, der Weizsäcker seit sechzehn Jahren ist, blieb eine moralisch-politisch Instanz – sozusagen Präsident ohne Amt.

Und so passt die Fülle der Würdigungen, die sein 90. Geburtstag am kommenden Donnerstag über ihn hereinbrechen lässt, gut zu der überraschenden Wendung, die der Zeitgeist in der Bundesrepublik genommen hat. Seitdem sie in die Jahre gekommen ist, sind wir, zumal die Stimmgeber in den Zeitungen, Talkshows und Magazinen, ja neuerdings anfällig geworden für die Faszination der großen alten Männer der Politik. Schmidt, als Kanzler ausdauernd bekrittelt, hat spätestens seit seinem neunzigsten Geburtstag vor zwei Jahren den Rang einer Ikone. Über Helmut Kohl wurde eben erst zu seinem Achtzigsten Versöhnung mit vollen Händen ausgegossen, auch von seinen Kritikern. Nun also Weizsäcker – nur dass für ihn schon immer alle waren, weil es so schwer war, nicht für ihn zu sein.

Ist das nur der Abglanz des Amtes, das er zehn Jahre innehatte? Der Bundespräsident sei, wie der Essayist Johannes Gross einmal dekretiert hat, im Staatsgefüge „eine Spitze, auf die nichts zuläuft“, also sozusagen zur Verehrung freigegeben. Mit ernsthafter Politik habe er daher nichts zu tun? Gerade in den Jahren der Präsidentschaft Richard von Weizsäckers haben die Deutschen erfahren, was alles von dieser Spitze ausgehen kann: kritische Klärung, ermutigende Anstöße, ja, der Wandel ganzer kollektiver Stimmungslagen. Sie haben es ihm vergolten durch Zuneigung und Zustimmung, Sympathie und Bewunderung. Das alles verwandelte die Machtlosigkeit des Amtes wenn schon nicht in Macht, so doch in einen überragenden Einfluss. Es hat diesem Präsidenten nach innen wie nach außen eine Größe gegeben, ohne die diese Republik anders ausgesehen hätte.

Dass er Abstand zum politischen Getümmel gehalten hat, mag richtig sein. Auch hat er nur drei Jahre ein exekutives Amt ausgefüllt – von 1981 bis 1984, als Regierender Bürgermeister in Berlin. Allerdings hat Weizsäcker gerade in der Inselstadt gezeigt, dass er sich auch durchsetzen konnte. Von Kohl geschickt, um Berlin für die Union zu holen, wurde er zunächst abgeschmettert. Indem er machtbewusst in einem fast plebiszitären Handstreich das Mittel des Volksbegehrens einsetzte, hat er der SPD die Vorherrschaft in der Stadt entrissen. Und für seine Kandidatur zum Bundespräsidenten 1984 hat er in Kauf genommen, seinen Förderer Kohl und seine Anhänger in der Stadt – denen er versichert hatte, in Berlin zu bleiben – vor den Kopf zu stoßen. War Weizsäcker vielleicht doch, wie Peter Glotz zugespitzt formuliert hat, „der Machtmensch in der Präsidentenkulisse“? Oder hatte sein Erfolg seinen Grund in einer anderen, nämlich seiner Art von Politik?

Natürlich steht für Weizsäckers Wirken und Wirkung vor allem die Rede, die er 1985 zum Gedenken an den 8. Mai 1945 gehalten hat, bis dahin das Datum der Kapitulation. Sogleich zu „der Rede“ avanciert, in abertausenden von Exemplaren verbreitet, bedeutet sie tatsächlich einen großen Augenblick in der Geschichte der Bundesrepublik. Indem er die Deutschen aufrief, der Wahrheit ihrer Geschichte ins Auge zu sehen und in dieser denkwürdigen Dreiviertelstunde im Bundestag selbst vorführte, was das heißt, schien sie wie das Aufstoßen eines Tores, und daran ändert nichts, dass manche danach behaupteten, er sei durch ein offenes Tor gestürmt, weil er vor allem Selbstverständliches ausgesprochen habe. Diese Rede, deren Herausforderung darin bestand, den Tag der deutschen Niederlage für die Deutschen als Tag der Befreiung zu bekennen, wurde weithin als Katharsis, als reinigende Anstrengung und insofern selbst als ein Akt der Befreiung empfunden.

Der Grund dafür mag darin liegen, dass Weizsäcker es nicht auf einen Schock anlegte, obwohl doch viele, vor allem Ältere angesichts dieser Neubewertung des Tages ein Schrecken durchfuhr. Er stellte den 8. Mai 1945 entschieden und einfühlsam hinein in die widersprüchlichen Erfahrungen und Empfindungen, die mit ihm verbunden sind, so dass die neue Sicht als Resultat wachsender Einsicht begreifbar wurde. In gewissem Sinne wirkte die Rede wie eine Summe der langen, oft quälenden Anläufe der Bundesrepublik, mit ihrer Vergangenheit ins Reine zu kommen. Die Woge der Zustimmung zeigte, dass da bereits ein breiter Konsens herangewachsen war, der geradezu darauf wartete, einen offiziösen Ausdruck zu finden. Die Ablehnung, auf die die Rede auch stieß – zumal im rechten Spektrum – bestätigte, wie groß die Widerstände gegen diesen Prozess des Umdenkens noch waren.

Die Rede, gehalten am Beginn seiner Präsidentschaft, gab den Ton an, der Weizsäckers Amtsführung geprägt hat. Was hat sie ausgemacht? Es war vor allem die Absicht, dem Gemeinwesen zu einem konstruktiven Verhältnis zu sich selbst zu verhelfen, zu seiner Geschichte, seiner Gegenwart, seinen Möglichkeiten. Es war Arbeit an der Identität und der Integration von Gesellschaft und politischer Ordnung, mithin politische Bildung, aber im großen Stil. Er wollte das Ganze spürbar machen als Ganzes einer durch Vergangenheit und Teilung „verletzten Nation“ (Noelle-Neumann, 1987).

Und zur überragenden Identifikations- und Integrationsgestalt der Bundesrepublik ist Richard von Weizsäcker denn auch geworden. Gewiss haben alle Bundespräsidenten darin eine Aufgabe ihres Amtes gesehen, aber keinen hat sie so bewegt wie Richard von Weizsäcker. Vergleichbar war er in dieser Ausfüllung des Amtes vermutlich nur mit Theodor Heuss, dem ersten Bundespräsidenten.

Die großen Orientierungsfragen, die Großdeutung der Verfassung der Deutschen haben deshalb das Feld seines öffentlichen Engagements gebildet. Da war das Leben mit der Zweistaatlichkeit und die Ostpolitik, begonnen mit der Polen- Denkschrift der Evangelischen Kirche und gipfelnd im Ringen um die Ostverträge, für die er sich bis zum Fast-Zerwürfnis mit der eigenen Partei, der CDU, verkämpfte. Von Berlin aus versuchte er, die deutsche Frage als Thema der Debatte zu erhalten mit der historisch gewordenen Kurzfassung: „Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist.“ Und wer hätte so wie er als Präsident in Reden und Auftritten das Bild eines liberalen, aufgeklärten Deutschlands entworfen, das auf dem Wege war, mit seinen Nachbarn Frieden zu schließen – und schließlich auch mit sich selbst?

Weizsäcker: Das bleibt ein markantes Kapitel Politik, das sich durch die Geschichte fast eines halben Jahrhunderts zieht. Am Anfang steht der bewegte Bürger mit protestantischem Ethos als Treibsatz – Zündfunke das von Weizsäckers Freundeskreis verfasste „Tübinger Memorandum“ 1962, das es zwar nicht bis in die Geschichtsbücher gebracht hat, aber Geschichte machte, indem es heftig am adenauerschen Deutschland rüttelte. Dann Gratwanderungen als CDU-Reformer, als Konservativer mit liberalen Positionen. Große Lust an der Grenzüberschreitung. Gerne zwischen den Fronten. Schließlich der Präsident, in dem die alte Bundesrerepublik sich repräsentiert sah, und der den neuen Anfang 1989 – nach kurzer Irritation – zu seiner Sache machte.

Tatsächlich war für die Rolle, die Weizsäcker gespielt hat, keiner so prädestiniert wie er. Wenn die ihm freundschaftlich verbundene Gräfin Dönhoff schrieb, dass bei der synthetischen Herstellung eines idealen Bundespräsidenten „kein anderer als Richard von Weizsäcker herauskommen“ würde, so hatte sie natürlich recht. Doch überdeckt dieses Lob auch seine eigentliche Leistung. Es sind die historischen Synthesen, die er in seinem Leben, mit seinem Leben vollzogen hat. Und wenn er eben in einer Fernsehdokumentation auf die Frage, was er denn sei, mit bewährtem Understatement antwortet: „ein Zeitzeuge“, so darf man den Verweis nicht überhören, was für eine anstrengende Sache das in seinem Falle ist.

Keiner der Nachkriegspolitiker seiner Generation reicht ja so tief in jenes alte Deutschland zurück, das in der Katastrophe von Drittem Reich und Krieg untergegangen ist. Glanz und Fragwürdigkeit seiner Führungsschicht verdichten sich in seinem Leben geradezu: Der Großvater königlich-württembergischer Ministerpräsident, der Vater Staatssekretär im Auswärtigem Amt des Dritten Reiches, Militärzeit beim erzpreußischen Infanterieregiment Nr. 9 in Potsdam, Kriegsteilnahme vom ersten Tag bis zum bitteren Ende. Und dazu, als gravierendes Nachspiel, die Rolle als Hilfsverteidiger des Vaters Ernst Freiherr von Weizsäcker, der vor dem Nürnberger Gerichtshof als Kriegsverbrecher angeklagt und verurteilt wird.

Es ist dieses Kapitel, dessen Bedeutung für Weizsäcker gar nicht zu überschätzen ist, weil sich in ihm das deutsche Verhängnis in exemplarischer Weise mit dem Familienschicksal verbindet. Hat der Vater sich schuldig gemacht durch seine Mitwirkung in einem verbrecherischen System? Rechtfertigt es ihn, dass er im Amt blieb, „um Schlimmeres zu verhindern“?

Im Rückblick erweist sich der Fall Weizsäcker als Paradebeispiel für das Dilemma der deutschen Oberschicht und des bürgerlichen Lebens im NS-Staat überhaupt: Die Rolle des Vaters erscheint aus seiner, aus Sicht des konservativen Spitzenbeamten, Architekten des Münchner Abkommens und Unterhändlers des Hitler- Stalin-Pakts als Versuch, im Inneren des Apparates gegenzuhalten, vielleicht sogar als, wie man gesagt hat, „Widerstand durch Mitwirkung“. Während sie sich von heute aus, in der Kenntnis der Konsequenzen des Regimes, als Beihilfe zum Verbrechen darstellt. Das ganze Leben hindurch ist Richard von Weizsäcker von diesem Drama verfolgt worden, und stets hat er äußerst empfindlich reagiert, wenn der Vater angegriffen wurde.

Man muss sich diesen Hintergrund vergegenwärtigen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was Weizsäcker als Politiker antrieb und womit er auf die Bundesrepublik wirkte. In dieser Biografie begegnen sich ein Gestern und das Heute – folgt man dem Titel seiner Erinnerungen sind es sogar „Vier Zeiten“ –, gewendet in die Verpflichtung auf ein Gemeinwesen, das aus seinen Lektionen gelernt hat. Dass er, das jüngste von vier Kindern, den Vater sein Leben lang heftig verteidigte, nimmt ja davon nichts weg. Eher im Gegenteil: In Richard von Weizsäckers Wendung zur Politik steckt auch die Raison des Sichlösens vom Versagen des Vaters und seiner Generation, ja, ihrer Überwindung. Und zwar jenseits des hämischen Kritikerarguments, dass er als Politiker immerfort seinen Vater bewältigt habe. Diese Entscheidung verstand sich ja nicht von selbst bei einem Mann, der zunächst, in den fünfziger Jahren, eine erfolgreiche Laufbahn in der Wirtschaft anstrebte. In die Politik zu gehen war sein Beitrag zu dem Ringen um ein vernünftiges Verhältnis zum Politischen, das das große Thema der deutschen Nachkriegszeit ist.

Dass er nicht so ganz ins übliche Politikermuster passe, haben ihm manche gern vorgehalten, und er hat es nicht ungern gehört. Dabei hat es Weizsäcker an politischer Professionalität nicht gefehlt, und auf den Wogen der kollektiven Stimmungen ist kaum ein anderer so perfekt geritten wie er. Aber ausgefüllt hat ihn diese Art von Politik nicht. Gerne zitiert er die Sentenz: „Kultur ist Politik. Kultur, verstanden als Lebensweise, ist vielleicht die glaubwürdigste, die beste Politik“. Sie lockt nicht nur ins Tiefgründige, sondern sagt auch etwas aus über den Wurzelgrund seiner Existenz. Tatsächlich ist der Politiker Weizsäcker nicht vorstellbar ohne seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund und den württembergischen Urnebel von Pfarrern und Beamten, dem seine Familie entstammt. Und ohne den anrührenden Enthusiasmus des Kulturliebhabers, dem der Platz in der Philharmonie das Gefühl entlockt, „in der Mitte der Welt zu sein“.

Es liegt in der Natur der Dinge, dass ein Mann im Alter Richard von Weizsäckers schon ein wenig historisch wird, für seine Zeitgenossen wie vielleicht auch für sich selbst. Von der Lebenshöhe seiner Jahre aus verspürt er, geschichtsbewusst wie er ist, den Gang dieser Geschichte: „Die ,verspätete Nation‘, die mit ihrem imperialen Weg für die anderen Mächte kaum erträglich wurde, ihre schwere Bestrafung 1919, ihre Not als junge Republik, ihr Sturz ins unvorstellbare Verbrechen, ihre Verdammung und Zerteilung, dann ihre schrittweise allmähliche Wiederaufnahme in die Welt, nun zum ersten Mal von niemandem mehr gefürchtet, sondern ertragen, ja gesucht.“

Ist es Gnade? Ist es Glück? Für sich begreift er es als das eigentliche Wunder.

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